Tobias Gohlis über André Georgi: Tribunal



André Georgi
Tribunal

 

 

 

 

 

 

Wiederkehr des Schreckens

In seinem Thrillerdebüt erinnert André Georgi an die Gewaltexzesse des Bosnienkriegs

Es gibt Orte, die immer wieder aufs Neue die kollektive Erinnerungskraft des Erzählens auf sich ziehen. Einer dieser Orte ist die Mehmed-Paša-Brücke im bosnischen Višegrad. Die Brücke über die Drina galt dem Nobelpreisträger Ivo Andric im gleichnamigen Roman als Symbol für den Austausch von Kulturen, Ethnien und Religionen an der Grenze zwischen Serbien und Bosnien über vier Jahrhunderte. In Saša Stanišics Wie der Soldat das Grammofon repariert von 2006 verbindet sie Kindheit und Krieg. Und in Tribunal, dem Debütthriller des bisher nur als Drehbuchautor bekannten André Georgi, bildet die Brücke den Fixpunkt eines historischen Alptraums.
Auf der Brücke über die Drina ließ der serbische Kriegsverbrecher Kovac, Anführer einer "Wölfe" genannten paramilitärischen Einheit, 3953 muslimische Männer erschießen. Ihre Leichen, so weiß die Anklage gegen ihn, "haben den Fluss so verstopft, dass die Trinkwasserversorgung im siebzig Kilometer entfernten Bajina Bašta zusammengebrochen ist und die Wölfe die Leichen ein paar Kilometer von der Brücke entfernt wieder aus der Drina fischen und irgendwo verscharren mussten, auf dem Kovac-Feld, einem Massengrab, das bislang nicht gefunden wurde, genauso wenig wie die Videos, die die Wölfe von den Massakern auf der Brücke gemacht haben." Das war 1992 in Višegrad. Jetzt, 2005, steht Kovac in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, und keiner kann ihm was anhaben. Kovacs Macht wie die Ohnmacht des Gerichts demonstriert Georgi eingangs in einer langen, schnell geschnittenen Attentatsszene. Im Kugelhagel bestens informierter Scharfschützen kommt der einzige noch aussagebereite Zeuge um. Seine Beschützerin Jasna Brandic, aus Bosnien stammende, in Berlin aufgewachsene Ermittlerin des Tribunals, überlebt als einzige und fragt sich seither, warum.
Wie der sprichwörtliche Fisch hängt Jasna an der weit ausgeworfenen Angel des Kriegsverbrechers. Der Haken daran ist ein Anruf aus Belgrad, der Jasna auf die Spur von Kovacs untergetauchtem Adjutanten mit dem Kriegsnamen Branko zu bringen verspricht. Jasna kehrt zurück in eine von archaischer Gewalt beherrschte, düsterte Welt. Mit grausigen Effekten ruft Georgi die Zeit nach der Ermordung des rechtlich denkenden Ministerpräsidenten Zoran Ðindic in Erinnerung, als es Volkssport zu sein schien, serbische Kriegsverbrecher vor den Ermittlern des Tribunals zu verstecken. Jasnas verschollener Bruder taucht auf. Gekreuzigt treibt er auf einem Floß. Wie wilde Tiere verstecken sich die überlebenden "Wölfe" Kovacs in Schweineställen. Ihr Anführer Stavros pflegt seine Opfer ans Kreuz zu nageln, auch Jasna gerät in seine Fänge. Georgi schreibt mit dem Hammer, schildert Akte von kaum erträglicher Grausamkeit und testosterondampfender Gewalt. Allzu schlichte Action-Orientierung bemängelt sein Kollege Frank Göhre. Doch zielen Georgis genau recherchierte Szenen auf anderes: Sie halten ein Bild des Krieges fest, der eben – ein Blick in die Ukraine lehrt es - kein Betriebsunfall der ansonsten auf bestem Wege vor sich hin handelnden europäischen Zivilisation ist, sondern ein lauerndes wildes Tier. Katharsis ist Georgis Konzept – Läuterung und Erkenntnis liefern andere. Oder auch nicht.


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 24 vom 5.6.2014

Siehe auch: Tobias Gohlis und Katja Nicodemus im Gespräch mit André Georgi, Orkun Ertener und Sascha Arango