Tobias Gohlis über Bernhard Jaumann: Die Augen der Medusa

 


Real und erfunden: Montesecco

Nieder mit den Faschisten!

Solidarität und Schlauheit

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Bernhard Jaumann:
Die Augen der Medusa

 

 

 

Ein Dorf allein, aber stark

Bernhard Jaumann gehört zu den stillen Autoren im Land, die viel zu wenig wahrgenommen werden. Trotz Glauserpreis 2003 und 2008. Seine Roman-Serie um das winzige Dorf Montesecco in den italienischen Marken sollte in gleichem Atemzug mit den großen britischen Italien-Krimis von Magdalen Nabb und Michael Dibdin genannt werden.
Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an zu Hause fühlt, die man beim ersten Mal liest, als würde man sie nach Jahren wieder lesen: Aus der Erinnerung tauchen vertraute, aber versunkene Details auf, man amüsiert sich über die verspielten Windungen, die der Verlauf der Erzählung nimmt. So vertraut sind einem die drei Romane, die Bernhard Jaumann bisher über das kleine Dorf Montesecco in den italienischen Marken geschrieben hat.

Real und erfunden: Montesecco
Dieses Montesecco gibt es wirklich, man findet es im allsehenden GoogleMaps ungefähr auf dem 43. Breiten- und dem 12. östlichen Längengrad, in etwa 400 Meter Höhe, weitab von jedem anderen Ort. Und vermutlich ist das „Haus der Deutschen“, in das Matteo Vannoni (58, ehedem Lotta-Continua-Kämpfer, zwei Mollis auf dem Kerbholz) mit Unterstützung der Dorfgemeinschaft einen unterirdischen Eingang bricht, um seinen Enkel Minh aus den Klauen terroristischer Geiselnehmer zu befreien, das Haus der Familie Jaumann, die dort seit einigen Jahren wohnt. Und doch, bei aller Realitätsnähe, ist alles Kunst, feinstgesponnene, in Die Augen der Medusa. Schon der Titel mit seiner (leider ein wenig verkrampften) Analogie zur Perseus-Sage signalisiert es. Jaumann liebt Konzepte: 1997 legte er eine fünfteilige Serie von Romanen vor, von denen jeder in einer anderen Metropole spielte und einen der fünf Sinne thematisierte. Grundmuster der Montesecco-Romane ist – naheliegend, aber wunderbar kammermusikalisch durchgeführt - die Bedrohung von außen: Im ersten sind es eine Vipernplage und die Rückkehr eines verurteilten Mörders, im zweiten sorgen drei importierte Huren für heftige Unruhe, die in der Entführung eines Jungen kulminiert, und jetzt, im dritten, sind es Granaten, die auf das Dorf geschossen werden, um den berühmtesten Staatsanwalt Italiens mitsamt Dienstlimousine in die Luft zu jagen.

Nieder mit den Faschisten!
Während die Dorfbewohner – es sind gerade einmal 25 übrig geblieben, die hier ihr bescheidenes und meist friedliches Leben fristen – noch in der Dorfkneipe das Rätsel zu ergründen suchen, wieso der Staatsanwalt ausgerechnet in ihrem abgelegenen Winkel pulverisiert wird, sind sie schon von der gesamten Staatsmacht umstellt. Skrupellos errichten die Besatzer ihren Kommandostand im ehemaligen Pfarrhaus. Doch Widerstand regt sich: Es ist die 85-jährige, schon recht debile Costanza, die mitten in der Nacht den Kampf aufnimmt und, im Glauben, bei den schwarz camouflierten Spezialtruppen handele es sich um SS-Einheiten, mit Krückstock und gerissener Verstellungskunst einige Eindringlinge mächtig in Verwirrung stürzt.

Solidarität und Schlauheit
Die Dorfgemeinschaft, zerstritten, verschwistert wie nur je eine, beginnt zu begreifen: dass die Polizei den jugendlichen Computerfreak Minh für den mörderischen Terroristen hält, der sich im Dorf verschanzt hat. Ihren Jungen, den sie seit seiner Entführung damals gehätschelt und beschützt haben, werden sie nicht von tollwütigen Spezialeinheiten abknallen lassen! In Montesecco gilt die amerikanische Serienlogik „Erst schießen, dann fragen“ nicht. Jaumann schildert den Prozess von Entdeckung, Solidarisierung, Aufklärung und letztendlich erlösender Befreiung, den die Dorfgemeinschaft durchmacht, wunderbar leicht. Je komischer die einzelnen Aktionen der Dörfler, je größer das Mitgefühl des Lesers mit ihrem aussichtslos scheinenden Kampf gegen die blind und feindbildversessen wütende Staatsmacht, desto klarer das Bewusstsein, dass hier im volkstümlichen Stil von Camilleris Montalbano-Romanen ein melancholisches Sehnsuchtslied erklingt auf eine untergegangene Welt, auf den Heroismus, die Solidarität und die Schlauheit der kleinen Leute. Und ganz nebenbei: Die Augen der Medusa ist ein perfekt konstruierter Kriminalroman, mit raffinierten Wendungen, unerwarteten Aktionen und einem summa summarum guten Ausgang. Auch wenn die Bevölkerungszahl Monteseccos weiter schrumpft: ein vierter Roman müsste noch drin sein. Wie wär’s damit, Herr Jaumann?

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung als Buchtipp des Monats September bei ARTE.

Siehe auch: Tobias Gohlis über Bernhard Jaumann: Die Vipern von Montesecco