Tobias Gohlis über Bernhard Jaumann: Die Vipern von Montesecco

 


Die Vipern kommen vom Berg

Montesecco regelt die Dinge selbst

Es geht ohne den Staat

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Bernhard Jaumann: Die Vipern von Montesecco

 

 

 

Ein Dorf sucht seinen Mörder

Es ist heiß. Die Sommersonne glüht die Steine aus, das Getreide dorrt. Der Hund des Schäfers ist bereits von einer Viper gebissen worden. Überall sind sie zu finden, unter jedem Stein. "Man könnte glauben, die Erde selbst speie Gift." Niemand widerspricht Marcantoni, er hat siebzig Lebensjahre auf dem Buckel.

Wenige Pinselstriche reichen aus - und wir sehen dieses Dorf irgendwo in der Mitte Italiens vor uns, in der Hitze dämmernd, entvölkert von Wellen der Emigration. In der Mitte die Piazza, die klapprige Bar, ein Mäuerchen mit Aussicht ins Tal, abendlicher Treffpunkt für die wenigen, die hier ausharren. Und nur wenig fehlt, um das scheinbar immer währende Gleichgewicht dieses winzigen Ortes mit seinen siebenundzwanzig ständigen Bewohnern - Katzen, Esel und Hühner nicht gerechnet -zu stören. Die Vipern sind schon da, auf der Suche nach Wasser herabgekrochen aus den Bergregionen, als Matteo Vannoni nach fünfzehn Jahren Gefängnis zurückkehrt. Montesecco verfällt in lauernde Unruhe. Plötzlich werden die Scherzworte genauer gewogen, die Hänseleien, mit denen man sich den Feierabend vertreibt, sorgsam dosiert: Nichts aufrühren!

Vipern kommen vom Berg
Was wird geschehen, wird etwas geschehen? Vor fünfzehn Jahren hat Matteo seine Frau erschossen. Er hatte sie mit einem Liebhaber im Bett erwischt. Der Ehebrecher, der mit nacktem Hintern aus dem Fenster springen konnte, lebt noch immer in Montesecco. Matteos kleine Tochter ist zu einer jungen Frau geworden - und schwanger von jemandem, den sie nicht nennen will. Man muss als Leser nicht siebzig geworden sein, wie der alte Marcantoni, um das Unheil zu spüren, das sich zusammenbraut.

Doch es ist nicht der gehörnte Matteo, der späte Rache nimmt an dem Mann, der ihm Frau und Familie raubte. Giorgio Lucarelli, der auch nach der Affäre mit Matteos Frau den Don Juan spielte, wird beim Beschneiden seiner Ölbäume von einer Viper gebissen. Zu weit ab vom Dorf liegen seine Terrassen, er schafft es nicht rechtzeitig zurück für den Weg in die Stadt, um sich im Krankenhaus ein Gegengift spritzen zu lassen. So jedenfalls sieht es die Polizei: ein bedauerlicher Unfall in einem vipernreichen Sommer.

Montesecco regelt die Dinge selbst
Doch Montesecco sieht es anders. Zunächst ist es der alte Carlo, der Vater des Toten, der Aufklärung bis zum letzten verlangt und schwört, den Leichnam nicht eher zu begraben, bis der Schuldige gefunden ist. Dann häufen sich die Ereignisse. Die Todesanzeige ist mit Parolen beschmiert: "Es lebe die Viper!" feiert jemand im Stil der Roten Brigaden. Voll Furor rast der alte Carlo mit dem Motorrad gegen einen Baum; am Tor zum Dorf hängt eine Viper; Constanza Marcantoni, die Kräutersammlerin, findet eine zerschmetterte Schlange dort, wo der gebissene Giorgio gearbeitet hat, aber nicht gefunden wurde.

Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an zu Hause fühlt, die man liest, als würde man sie nach Jahren wieder lesen: Aus der Erinnerung tauchen vertraute, aber versunkene Details auf, man amüsiert sich über die verspielten Windungen, die der Verlauf der Erzählung nimmt. So ein vertrautes Buch ist Bernhard Jaumanns Die Vipern von Montesecco . Jaumanns Gemälde eines halb verlassenen, halb archaischen Dorfes ist fein gezeichnet und genau beobachtet, zahllose Details machen ein vertrautes Muster lebendig.

Jaumann erzählt die Geschichte einer kleinen, seit Generationen miteinander lebenden Gemeinschaft, die auf sich allein gestellt und allein gelassen von einem versagenden Staatsapparat, zurückkehrt zu Verfahren der Rechtsfindung, die vor Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs galten. Montesecco sucht seinen Mörder - auf dörfliche Weise.

Es geht ohne den Staat
Auf der Piazza erklingt nicht der Ruf nach dem Staat wie in Fritz Langs M - eine Stadt sucht einen Mörder , wo gleich in einer der ersten Szenen ein Stammtischkrieger geifert: "Dich bring ich ins Zuchthaus!" Vielmehr wird die ortsfremde Polizei ausgesperrt, die Leichen von Vater und Sohn Lucarelli werden in der Tiefkühltruhe der Bar dem staatlichen Zugriff entzogen. Hier gilt - akzentuiert durch Anspielungen auf die Antigone des Sophokles - älteres und menschlicheres Recht. Nach den mit Ortskenntnis schlau betriebenen eigenen Ermittlungen wird das Urteil gefällt: als Gottesurteil und vor der Gemeinschaft. Und der Mörder stellt, indem er seinem eigenen Gesetz unbedingter Leidenschaft folgt, im Sterben das gestörte Gleichgewicht wieder her. Bernhard Jaumann gehört, trotz Auszeichnung mit dem Glauserpreis 2003 , zu den Stillen im Lande. Immer wieder bezaubert er durch kluge, feinsinnige Erzählweise und beobachtungsgenaue Sprache. Die Vipern von Montesecco ist ein wunderbares Buch für den Urlaub - und zum Wiederlesen.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 32 vom 3.8.2005

Siehe auch: Tobias Gohlis über Bernhard Jaumann: Die Augen der Medusa