Expatriots
Liebe und Zorn
Saubere Entscheidungen
sind unmöglich
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Joseph Kanon: Stadt
ohne Gedächtnis
Aus dem
Amerikanischen von Rudolf Hermstein
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Venedig – Stadt der Schuldigen
Die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs und die Umbruchjahre
danach bilden Joseph Kanons Schreibraum. Roman um Roman rückt der
New Yorker Autor zwischen 1943 und 1950 ostwärts voran wie auf einem
Äquator – von Los Alamos über New York, Berlin
nach Venedig - und erforscht die moralischen Ambiguitäten einer Epoche
im letzten Stadium ihres Zerfalls. Es ist die bürgerliche Welt, die
Welt von Proust, Einstein und Thomas Mann, aber auch eine Welt, in der
„Gesellschaft“ noch „die gute Gesellschaft“ meinte:
Bälle, Cocktailparties und Palazzi in Venedig.
Expatriots
Dort hat sich nach dem Krieg Adam Millers Mutter Grace ein Haus gemietet,
in der Hoffnung, in der Lagunenstadt habe sich die Unbeschwertheit der
Vorkriegszeit bewahrt. Adams Eltern hatten zu jenen „Expatriots“
gehört, die in Paris und Venedig amerikanischen Reichtum mit europäischer
Kultur zu einer internationalen Bohème der Moderne verschmolzen
– nicht verwunderlich, dass ihr frisch gemietetes Haus nur wenige
Schritte vom Palazzo
Venier dei Leoni entfernt liegt, in dem Peggy Guggenheim 1949 ihr
Domizil bezog und später ihr Museum eröffnete.
Adam ist erschöpft. In Frankfurt hat er als „Bluthund“
deutsche Kriegsverbrecher gejagt, ein gutmeinender Amerikaner, wie er
bei Graham Greene im Buche steht. Eines Nachmittags wird ihm von Onkel
Bertie, der hier schon ewig in der Gesellschaft katholischer Priester
und verschiedener junger „Assistenten“ lebt, eine junge Frau
vorgestellt. Die Anziehung ist heftig und scheint gegenseitig, doch schwebt
in der Mischung aus Schüchternheit und sexueller Robustheit, mit
der sich die dunkle Schöne dem Amerikaner nähert, ein Hauch
von Irritation. Adams schwaches und ehrpusseliges Ich (aus dessen Perspektive
die Verwicklungen erzählt werden) hinkt immer ein wenig zurück
hinter dem, was es verkraften muss. Eben noch bewunderte der junge Gentleman
die erotische Eleganz, mit der die neue Bekanntschaft ihre Seidenbluse
aufknöpft, da wird schon sein Mitgefühl bis zum Anschlag gefordert:
Claudia ist Jüdin und eine der wenigen, die das KZ
Fossoli überlebt haben - als Geliebte des Lagerleiters.
Liebe und Zorn
Stadt ohne Gedächtnis – der deutsche Titel von Joseph
Kanons viertem Kriminalroman
verweist auf die geläufige Vorstellung von der Nachkriegsgesellschaft,
in der niemand etwas getan oder gewußt haben will. Und tatsächlich
scheint Claudia, die Überlebende, die einzige Person zu sein, die
am allzu rasch und einverständig ausgebreiteten Mantel der Normalität
zerrt. Ausgerechnet bei der Party, auf der sich Adams Mutter mit Gianni
Maglione, einem Arzt aus alteingesessener venezianischer Familie, verloben
will, erkennt sie im Bräutigam den Mann, der ihren Vater an die SS
denunziert und damit auf den Weg nach Auschwitz geschickt hat. Symbolhaft
hinterlassen ihre Fingernägel blutige Spuren im glatten Gesicht des
allseits verehrten Doktors. Adams Entscheidung steht fest: Er wird den
Kollaborateur entlarven, der seine Geliebte zur Hure machte und nebenbei
auch auf das Geld seiner Mutter aus zu sein scheint. Als Claudia kurz
nach der Konfrontation Job und Wohnung verliert, wird seine Rage weiter
angestachelt.
Saubere Entscheidungen sind unmöglich
Kanon geht es nicht um das, was wir bereits wissen. Nicht die Aufdeckung
von Verbrechen ist das Thema seiner Romane, sondern die Unmöglichkeit
moralisch sauberer Entscheidungen. Noch ist der Schweiß der ersten
Liebe nicht trocken, da setzt die Debatte ein. Claudia warnt ihren aufgebrachten
Amerikaner, allzu leicht könne man werden wie die Nazis. Er: „
'Aber du bist nicht wie die.' Sie schaute zu mir hoch. 'Jeder ist wie
die'.“ Das ist die Lektion, die er lernen wird. Nur wenige Tage
später haben die beiden halb in Notwehr, halb im Zorn den Denunzianten
erschlagen.
Von Schuldgefühlen und Selbstbezichtigungen gequält vertuschen
die beiden den Totschlag und erfinden immer neue Lügen, um ihr Alibi
(so der englische Titel) abzusichern. Auf der Suche nach Beweisen, die
ihre Tat rechtfertigen, verliert Adam Zug um Zug die Unschuld seiner Selbstgerechtigkeit.
Jeder Versuch des Nazijägers, eine saubere Lösung herbeizuzwingen,
reitet ihn immer tiefer in den Sumpf. Kanon beschreibt Venedig als Ort
konturloser Untiefe und an der Oberfläche glänzende labyrinthische
Schreckenskammer, in der keiner ohne Schuld ist. Dialoge, choreografiert
wie ein Messerkampf, der Plot gnadenlos wie eine antike Tragödie
– Kanons vierter Roman ist ein Meisterstück, beste historische
Kriminalliteratur. Jeder Kanal endet als Sackgasse.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 4 vom
16.1.2006
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