Tobias Gohlis über Andrea Maria Schenkel: Bunker




Wagnis Fiktion

Drei Erzählstränge barock verschlungen

In der Scheiße

Zuviel eingesperrt

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Andrea Maria Schenkel: Bunker

 

 

 

 

 

Verschwommene im Dunkeln

Andrea Maria Schenkels dritter Krimi ist eine Etüde, mehr nicht

„Ich“. Die erste Stimme: Jemand ist unter der Erde eingeschlossen. Noch dringt etwas Licht durch den Schlitz unter der Stahltür des Bunkers. Draußen fällt eine Tür zu. Finsternis. Der Eingeschlossene erinnert, träumt sich mächtig: Vor ihm kniet eine Frau, gefesselt, er reißt sie an den Haaren, kann ihr Gewalt antun. Und „Ich“. Die zweite Stimme: eine Frau. Sie kniet auf dem Boden, gefesselt, der Mann reißt sie an den Haaren. Figuren als unklares namenlose „Ich“, „Er“ oder „Sie“ einzuführen, ist ein beliebter Autorentrick, um Irritation und Spannung zu erzeugen. Oft ist dieser Trick nur billig auf den Aha-Effekt zugeschrieben. Würde der Name aufgedeckt, wäre gleich klar: Der war’s, ach so. Im dritten Roman von Andrea Maria Schenkel ist die Unbestimmtheit der beiden Ich-Stimmen kein Trick, sondern Prinzip. Auch der Ort, an dem sie zusammenkommen, ist kaum definiert: eine verlassene Mühle irgendwo im Wald, im Keller ein Luftschutzbunker. Ein Mann hat eine Frau entführt und in die Einsamkeit verschleppt. Damit müssen sie klarkommen. Eine Klaustrophobie erzeugende Ausgangslage, auf die sich alles konzentriert.

Wagnis Fiktion
Bunker heißt der Roman, ebenso lakonisch wie die Vorgänger Kalteis und Tannöd. Tannöd war 2006 eine literarische Sensation. Ein Kriminalroman ohne Ermittler, basierend auf den Fakten eines ungelösten Mordfalles. Ein Paukenschlag gegen das vor sich hin dumpfelnde Regionalkrimi-Gewese. Publicitywirksame Effekte kamen hinzu: ein (inzwischen gerichtlich ausgeräumter) Plagiatsvorwurf, die kometenhafte Karriere der Hausfrau zur Platz-1-Bestsellerautorin. Handelte es sich um einen Zufallserfolg oder ist Andrea Maria Schenkel eine ernstzunehmende Schriftsellerin? Kalteis, der zweite Roman (2007), ebenfalls nach den Akten geschrieben, wurde mit skeptischem Respekt wahrgenommen, war ebenfalls ein Erfolg. Die 45jährige Autorin, überrumpelt von Öffentlichkeit und Ruhm, blieb auf dem Teppich. Sie betrachtete Tannöd und Kalteis als Übungsstücke. „Die Fakten der historischen Fälle, die waren so etwas wie eine Sicherheitsleine für mein Schreiben.“ Schenkel will mehr. Jetzt hat sie, vor Fertigstellung des großen Erzählwerks, an dem sie seit 2007 arbeitet, ein kleines Stück dazwischen geschoben. Eine Etüde? Bunker ist Schenkels erstes „frei“ erzähltes Stück und damit auf eine gewisse Weise ein zweites Debüt. Wie zuvor experimentiert sie mit Zeit und Raum und Abfolge. Auch in Bunker ist der Fall aus den Stimmen der Beteiligten entwickelt. Aber es sind keine Zeugenaussagen mehr, die den Raum der Menschenzerstörung mit der Distanz der Aktensprache rekonstruieren. In Bunker reden Ich und Ich, Entführer und Entführte, um ihr Leben.

Drei Erzählstränge barock verschlungen
In seiner Struktur erinnert Bunker an ein barockes Musikstück, in dem die Stimmen vorwärts und rückwärts und im Krebsgang verlaufen. Die wechselnden Monologe der Entführten und des Entführers verheddern sich, umkreisen einander, verlieren sich in Erinnerungen und Phantasmagorien, werden zur Lebensbefragung, sind aber auch verbaler Kampf um Macht. Wird sie tun, was er will? Kann sie ihn in einen Ausweg reden, der ihr die Freiheit wiedergibt? Gegenläufig ist die dritte Stimme, die nüchterne eines Unfallrapports. Darin wird wiedergegeben, was nach dem Ende des Zweikampfs geschieht: Polizei und Notarzt finden eine Person mit Bauchverletzungen. Sie wird ins Krankenhaus transportiert, operiert, Ausgang offen. Der Unfallbericht setzt bereits zu Beginn ein. Der Leser weiß also, dass der Zweikampf mit einer verletzten Person enden wird, wer es ist, erfährt er zum Schluss. Er oder sie?

In der Scheiße
Zwei äußerlich kaum konturierte Ich-Stimmen, gegenläufige Chronologie. Wie in Tannöd und Kalteis ist der Leser in die Rolle des Detektivs versetzt, der selbst erschließen muss, was gespielt wird. Nur geht es nicht wie im klassischen Rätselkrimi um die Interpretation eines settings von Indizien (das war auch noch in Tannöd der Fall). In Bunker steht kaum etwas Faktisches fest. Die Taten-Ebene des Verbrechens tritt fast völlig zurück hinter dem kreiselnden Chaos, das die Autorin durch zeitliche Überschneidungen, Traumsequenzen und Spiegelungen der Figuren schafft. Ist sie für ihn die Entführte oder die verstorbene Mutter? Hat sie vor Jahren ihren kleinen Bruder erschlagen und ihn als Täter denunziert? Einbildung oder Tatbestand? Wer ist es, der die Schritte eines Menschen oben auf dem Holzboden des Dachgeschosses verfolgt und den Staub zwischen den Dielenritzen herabrieseln sieht? Er oder Sie, Ich oder Ich? In ihrer reduzierten Alltagssprache sind sie kaum zu unterscheiden. Gleichermaßen „hocken sie in der Scheiße“, und beide brüllen „verdammt“, wenn was schiefläuft.

Zuviel eingesperrt
120 Seiten hat Bunker. Stephen King hätte aus dem darin angesammelten Horror 1000 Seiten gemacht. Existenz-Befragungs-Hörspiel, David-Lynch-Adaption, Klötzchenspiel mit Genre-Elementen, Drogenreise - in diesem Bunker ist zu vieles eingesperrt. „Verbrechen und Gewalt faszinieren mich,“ hat die Autorin eingestanden hilflos ihre Obsession beschrieben. In Bunker hat sie ihre erzählerischen Messer gewetzt und erprobt. Aber die frühere Faszination hat sie nicht hervorgerufen. Empathie mit den Opfern und Imaginierung des Todes, Schenkels große Intensität bisher, ist verdeckt unter einem Zuviel an Konstruktion, Absicht, Effekten und Tricks. Billig ist das ganz und gar nicht, auch keine Enttäuschung. Eine Etüde eben. Andrea Maria Schenkel ist eine Autorin, die sich nach ihrem fulminanten Debüt auf der Bühne der literarischen Öffentlichkeit entwickelt. Das ist die spannende Nachricht.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 12 Zeit-Literatur März 2009

Siehe auch: Tobias Gohlis über Kalteis

Siehe auch: Tobias Gohlis über Tannöd

Siehe auch: Eine Doppelrezension von Andrea Maria Schenkel und Magdalen Nabb

Siehe auch: Tobias Gohlis über den Plagiatsvorwurf gegen Tannöd

Siehe auch: Tobias Gohlis besucht Andrea Maria Schenkel