Konfrontiert mit dem „Unaussprechlichen“
Empathie ist ein rares Gut
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Andrea Maria Schenkel: Kalteis
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Der Schrecken des Münchener Westens
München-Stadelheim, November 1939. Josef Kalteis ist auf
dem Weg zur Guillotine. Noch immer begreift der Mann nicht, warum ausgerechnet
ihm das geschieht. Er ist erfüllt von einer Leere, die größer ist als
jede Angst. Dieser Mann ist schon ein Nichts, bevor er darin verschwindet.
Johann Eichhorn wäre als einer der berüchtigsten Verbrecher in die deutsche Kriminalgeschichte
eingegangen, hätten die unendlich größeren Verbrechen der Zeit seine Gewalttaten
nicht überdeckt. Seit 1931 wurde Eichhorn als „Schrecken des Münchener
Westens“ gesucht. Fünf Frauen hatte er ermordet, hatte sich an den Leichen
vergangen und sie zerstückelt. Der Schlosser hatte ein beinahe perfektes Doppelleben
geführt.
Tagsüber NSDAP-Mitglied, Ehemann und Vereinsbruder, nachts Vergewaltiger und
Mörder. Hingerichtet wenige Wochen nach Weltkriegsbeginn. Der Serienkiller und
Frauenmörder, der ein Nazi war, das wäre fetter Stoff für Epen und Kolportagen.
Andrea Maria Schenkel hat jedoch aus den Dokumenten des historischen Falls Eichhorn
einen schmalen, konzentrierten Roman gemacht. In Kalteis, so der lapidare Titel,
ist jede naheliegende sensationslüsterne Verschwulstung von Nazismus und Machismo
vermieden. Es geht, jetzt zum zweiten Mal, um den Schrecken des Todes. Das ist
Andrea Maria Schenkels Thema.
Konfrontiert mit dem Unaussprechlichen
Das Entsetzen vor dem Hereinbrechen des Todes, vor
der urplötzlichen Gewalt, bildete schon den heißen Kern von Schenkels
Debütromans Tannöd. Eine Bauernfamilie wurde abgeschlachtet. In schlichter,
beinahe kunstloser Sprache versammeln sich in Zeugenaussagen und Erinnerungen
Nachbarn und Bekannte um die Leichen der Opfer. Konfrontiert mit dem „Unaussprechlichen“ können
sie nur stammeln. Das Gerede über die Toten kaschiert und offenbart dadurch
erst recht ihre Hilflosigkeit, verstärkt durch das Gemurmel ritueller
Fürbitten. Die Enge der ländlichen Zwangsgemeinschaft ist in Tannöd eindringlich
präsent, aber ohne Denunziation: Diese Sprachlosigkeit ist keine bayerische
Dorfeigentümlichkeit mehr, sondern ist das, von dem der Volksmund wie
das Stereotyp wissen, „dass es einem die Sprache verschlägt“.
Tannöd wurde Ende 2006 zur literarischen Sensation, hoch gelobt von der Kritik,
ausgezeichnet mit allen Preisen für Kriminalliteratur sowie dem Corine-Leserpreis
2007, und außerdem ein Bestseller. Seit Monaten rangiert es unter den Top ten
der einschlägigen Listen. Zum Riesenerfolg mögen auch ein paar äußere Umstände
beigetragen haben. Tannöd ist das Debüt einer Autorin, die bisher als Postbeamtin,
Hausfrau und Mutter gearbeitet hatte, es liegt — ohne ihn zu bedienen — im Trend
der Regionalkrimis. Zusätzliche Popularität verschaffte ihm ein lächerlicher
Plagiatsvorwurf. Doch im Kern ist es etwas anderes, das den Erfolg von Tannöd rechtfertigt. Nach der Lektüre empfindet man etwas ganz Seltenes, Schlichtes:
Mitleid mit den Opfern und auch mit dem Täter,
letztlich Mitleid mit uns selbst.
Empathie ist ein rares Gut
... und nur wenige
verstehen sie so zu wecken wie Andrea Maria Schenkel. In Kalteis gelingt
ihr das erneut, und noch eindringlicher. Nicht der Täter Josef Kalteis
und seine ebenso unergründlichen wie trivialen Motive — kaum versiegende
Quelle aller Serienkiller-Thriller — stehen im Zentrum, sondern die Tat.
Der Mann ist hingerichtet, und Schenkel zitiert gerade so viel aus Vernehmungsprotokollen
und Gerichtsakten, dass man ihn nicht völlig aus den Augen verliert.
Wie in Tannöd rekonstruiert sie in Zeugenaussagen und Protokollnotizen,
in knappen plastischen Skizzen ein Stück vom Leben — und das Sterben
der fünf Opfer. Anstatt aber jede Mordtat für sich zu erzählen, teilt
sie die einzelnen Elemente der Tat — das lustvolle Aufspüren dunkelhaariger
Frauen bei Radpartien ins Umland, das Ansprechen, die Vergewaltigung,
die Tötung, die Zerstückelung, das Verbergen der Leichenteile — so auf,
dass erst am Ende, als die letzte junge Frau umgebracht wird, eine vollständige
Ermordung mit allen obszönen, verstörenden Details erzählt ist. Bei
jedem Schritt, jedem Opfer stellt sich dem Leser schärfer, banger die
Frage: „Wie weit wird er denn noch gehen?“ Im Kontrast zu dieser Unausweichlichkeit
des Tatfortschritts verblüht das kurze Leben der sechzehnjährigen Kathie.
Naiv und hoffnungsfroh ist sie vom Land nach München gezogen, um dort
eine Anstellung zu finden. Da sie bei Bekannten nur vorübergehend unterkommen
kann und bald mittellos ist, muss sie sich Männern andienen, um ein
Bett für die Nacht und etwas zu Essen zu bekommen. Auch die proletarische
Bohème, die sich um das Lokal „Soller“ abspielt, bietet nur vorübergehend
Schutz und Trost. Gerade einer Woche große Stadt erlebt sie, bis sie
den Mann trifft, dem sie „unter den Händen bleiben“ wird.
Kalteis trifft ins Herz. Nicht nur durch die genaue Schilderung des Milieus,
die Schenkel den Erzählungen ihrer Großmütter und Tanten verdankt. Deren
Sehnsüchte sind in den Wunschträumen Kathies aufbewahrt. Kalteis ist
ein Kriminalroman besonderer Art. Der literarische, gefilmte, so und
so oft wiederholte Mord, den wir im Krimi voll Lustangst genießen, um
uns die Wirklichkeit des Sterbens vom Leibe zu halten, wird von Andrea
Maria Schenkel schmucklos ins Erleben zurückgeholt. Und erschüttert
deshalb umso mehr.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE
ZEIT Nr. 33 vom 9.8.2007
Siehe auch: Tobias
Gohlis über Kalteis
Siehe auch: Tobias
Gohlis über Tannöd Siehe auch: Eine
Doppelrezension von Andrea Maria Schenkel und Magdalen Nabb
Siehe auch: Tobias
Gohlis über den Plagiatsvorwurf
gegen Tannöd
Siehe auch: Tobias
Gohlis besucht Andrea Maria Schenkel
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