In Portugal reichen die Verbrechen weit zurück
Keine Klischees
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Robert Wilson:
Tod in Lissabon
Aus dem Englischen von Kristian Lutze
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Siebenmal mehr Gold
Einige Zeit nach der Lektüre von Robert Wilsons Tod in Lissabon - ich hatte das Buch bereits mehreren Bekannten weiterempfohlen - befiel mich ein unangenehmes Gefühl von nationalem Literaturneid. Sieht man einmal von den ebenso redlichen wie spießigen Anstrengungen Johannes Mario Simmels ab, scheint es keine nennenswerten Krimis in der deutschen Literatur zu geben, die sich mit der Nazizeit auseinander setzen, ohne in didaktische Starre zu verfallen. Der Brite Philipp Kerr hingegen hat mit seinen Romanen um den Kommissar Gunther (1995 und 1996 als Rowohlt-Taschenbücher) einige Zwielichtzonen jener Zeit ausgeleuchtet, der Brite Robert Harris mit Vaterland ein böses Was-wäre-wenn-Hitler-noch-Lebte an die Wand gemalt. Und nun dieser Wilson, Brite wie die anderen.
Trotz seiner Jugend hat Klaus Felsen schon ein paar Narben weg. Als er 15 war und noch ein Bauernjunge in Schwaben, hatte er seinen Vater an einem Scheunenbalken hängend gefunden. 1941 ist er 32, erfolgreicher Industrieller und erzählt einem SS-Gruppenführer, der Vater sei von einer Sau zertrampelt worden. Eine gute Geschichte ist allemal besser als die Wahrheit. Weil er den SS-Mann beim Poker ausnimmt, lernt er etwas vom Spiel seiner Zeit. Nach einigen Nächten im Keller der Prinz-Albrecht-Straße ist er bereit, alles zu tun, um am Leben zu bleiben. Der Homme à Femmes, der bei seinen Verflossenen auch Portugiesisch, Russisch und Französisch gelernt hat, wechselt in das Portugal Salazars und organisiert dort mit einem lokalen Banditen den Schmuggel des kriegswichtigen Metalls Wolfram für die Rüstungswirtschaft der Nazis.
In Portugal reichen die Verbrechen weit zurück
"Ich begann das Buch mit einer simplen Idee: Ich wollte über Nazigold in Portugal schreiben. Meine Frau stieß bei Recherchen in der Bibliothek auf die Tatsache, dass sich tatsächlich die Goldreserven Portugals während des Krieges versiebenfacht hatten, dank des Wolframexports an die Alliierten und die Nazis", verriet Robert Wilson einem englischen Magazin, nachdem der Außenseiter 1999 für Tod in Lissabon den Gold Dagger der Crime Writers Association für den besten englischen Thriller erhalten hatte.
Wilson lebt in Portugal, und die Liebe zu seiner Wahlheimat findet sich nicht nur in genauen Schilderungen Lissabons und der Küstenregion bei Estoril, sondern vor allem in der Person des Kommissars Zé Coelho (= Joe Karnickel). Der Fall, mit dem der alleinerziehende Vater einer 17-jährigen Tochter befasst ist, hat anscheinend nichts mit Nazis, Felsen und Wolfram zu tun.
Ein 15-jähriges Mädchen liegt ermordet am Strand seines Heimatortes in der Nähe Lissabons. Coelho gehört zum Typ der einsamen, unbeirrten Ermittler, der sich weder vom Nobelhintergrund des Opfers (ihr Vater gibt ein Dinner mit dem Innenminister als Alibi an) noch von politisch motivierten Interventionen seiner Vorgesetzten von der Suche nach der Wahrheit abhalten lässt. Seine Recherchen legen hinter den Fassaden portugiesischer Wohlanständigkeit eine Einsamkeit und Beziehungskälte bloß, wie man sie bisher nur in den kalifornischen Romanen Ross MacDonalds gelesen hat. Aus Lebensekel und Abscheu vor ihrer Familie verdingte sich die 15-jährige Tote als Prostituierte, umgebracht wurde sie aus Rache. Mehr darf an dieser Stelle nicht verraten werden.
Wilson verschafft dem Leser einen mehrfachen Genuss. Kunstvoll lange lässt er uns im Unklaren, wie die Geschichte Felsens und seiner nach dem Krieg auf Nazigold gegründeten Bank Oceano e Rocha mit dem Mord in der portugiesischen Gegenwart zusammenhängen. Selbst als sich die Verquickungen dieser weit zurückreichenden Wirtschaftsverbrechen mit der Familiengeschichte des Opfers abzuzeichnen beginnen, hält Wilson auf den allerletzten Seiten noch eine ebenso überraschende wie plausible Auflösung parat.
Keine Klischees
Wilsons überragende Kunst, die seinem Buch in den englischen Besprechungen das Etikett des literary thrillers eingebracht hat, liegt in der Figurenzeichnung. Wilson tappt nicht in ein einziges Klischee, das bei diesem Wälzer von Dumas-Format nur allzu nahe gelegen hätte. Kühl wie Eric Ambler hält er seinen Protagonisten jede Entscheidung offen: Sie machen ihre Geschichte und tragen dafür die Verantwortung. Gäbe es doch einen deutschen Krimiautor, der schreiben könnte wie Wilson.
Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 34/2002
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