Tobias Gohlis über James Sallis: Driver und Driver 2

 



„Ein Held unserer Tage“

Das Bild des amerikanischen Mannes

Instinkt und Reflexion

Nicht ganz allein

 

 

 

Fast ein befreiter Mann

Vorwort zu den Kultkrimis "Driver" und "Driver 2" von James Sallis in der Büchergilde Gutenberg

Niemals wird dieses Buch verfilmt werden können, dachte ich. Auch jetzt, trotz der gelobten Verfilmung durch Nicoals Winding Refn mit Ryan Gosling als Hauptdarsteller und nach wiederholter Lektüre, kommt es mir unwahrscheinlich vor, dass es jemandem gelungen sein soll, aus James Sallis’ vertracktem Driver einen Thriller zu machen, genauer: einen mit einer fortlaufenden Handlung, die den Zuschauer von A nach B mitnimmt.
Dabei scheint es so einfach. „Ich fahre. Das ist alles, was ich mache.“(1) Driver, der namenlose Fahrer des Romans, will nichts anderes. Sallis’ Erzählen läuft auf einen Satz hinaus: „Er fuhr.“ (2)
Damit schließt Driver 2 (Im Original: Driven), die Romanfortsetzung, die Sallis  auf Drängen von „Hollywood“ (3) verfasst hat. Beide Romane zusammen bilden ein literarisches Kunstwerk aus zwei miteinander verflochtenen, dennoch voneinander deutlich unterscheidbaren Texten. Drive, Drove, Driven – so könnte man die englischen Originaltitel konjugieren. Sallis ließ allerdings die Vergangenheitsform weg. Der erste Band Drive ist konnotiert mit Fahrt, Schwung, (An-)Trieb; der zweite Driven mit Passiverem. Fahren oder getrieben werden – so könnte man die Spannung zwischen den beiden Büchern, die Sie hier in einem Band lesen können, am kürzesten fassen.
Drive ist 2005 erschienen, Driven 2012, und beinahe der gleiche zeitliche Abstand trennt auch die Romanhandlungen (4). In Drive ist Driver 26 Jahre alt, in Driven ist er 32, wirkt aber auf seine Umgebung immer noch wie Mitte 20. Bei Beginn von Driven wissen wir, dass Driver jetzt noch nicht sterben wird. Denn sein Ende wird bereits im Finale von Driver vorausgesagt: „Es dauerte Jahre, bevor er um drei Uhr an einem klaren, kalten Morgen in einer Bar in Tijuana zu Boden ging.“(5)

„Ein Held unserer Tage“
Sallis gibt in Driven eine mögliche Interpretation seiner Driver-Romane. Er legt sie dem Drehbuchschreiber Manny Gilden in den Mund, einem Mann, der gleichzeitig einem Produzenten eine Story aufschwatzen und mit Driver über Existenzfragen telefonieren kann. Manny erfindet gesprächsweise ein Treatment über das Leben seines Freundes. Danach wäre Driver „›Ein Held unserer Zeit, der letzte Grenzbewohner‹, sagte Manny. Beinahe hätte er ein befreiter Mann gesagt.“(6) Aber das, setzt Sallis kommentierend hinzu, „würde zu viel Verwirrung stiften.“(7) Treatments sollen sich verkaufen lassen, dürfen also nicht allzu hohe intellektuelle Ansprüche stellen. Doch um die geht es Sallis. Allerdings um solche, die nicht der Realität entzogen sind. Und zu dieser gehört vor allem das Bewusstsein, nicht gewiss zu wissen und zu erkennen, dass vieles, was uns so durch den Kopf geht, aus Versatzstücken zusammengeklaubt ist. Kürzlich erläuterte Sallis: „Ein Gedanke, auf den ich immer wieder zurückkomme, (lautet) dass die Figuren ihr Selbstbild aus Fragmenten zusammenbasteln, manchmal hält es eine Zeit, meistens nicht.“(8) Daher wehen Gedanken, literarische Zitate, Anspielungen auf Filme, Werbetexte wie Blätter durch den Roman: Nicht der einzelne Gedanke zählt, sondern das Ensemble.

Das Bild des amerikanischen Mannes
Wie ich im Vorwort (9) zum Kultkrimi Der Killer stirbt geschrieben habe, umkreist Sallis in seinem vielstimmigen literarischen Werk das Bild des amerikanischen Mannes. Wobei das Wort „Bild“ auf eine falsche mediale Fährte lockt. Sallis zeichnet nicht, er umspielt diese Figur. Sallis’ Schreibverfahren ähnelt einer Jazz-Improvisation. Bestimmte Motive und Klangfolgen werden immer wieder neu angespielt, variiert, wiederholt, um ihnen abzulauschen, welche Veränderungen sich ergeben.
Beispielsweise die Eingangsszene zu Drive: Zwei Männer dringen in Drivers  Motelzimmer ein, er tötet sie, eine Frau (Blanche) verblutet. Wenige Kapitel später wird die Szene fast wortwörtlich wiederholt.(10) Und Driven setzt beinahe identisch ein: Zwei Männer attackieren Driver und werden von ihm getötet, eine Frau verblutet. Zwei Unterschiede bestehen: Die sterbende Frau in Driven heißt Elsa und ist keine Komplizin bei einem Raub wie Blanche, sondern Drivers Freundin. Und Drivers impulsive Reaktion auf die Gewaltattacke ist sechs Jahre später möglicherweise eine andere: nicht Abtauchen wie damals, sondern ...? (11) Sallis überlässt die Antwort darauf, wie vieles, der Interpretation des Lesers.
Drive, Driven – beide Texte umkreisen, nicht nur im Titel, die Frage der freien Entscheidung. Technisch ist das für Driver kein Problem: Er kann auf einer langen geraden Straße um 180° wenden. Alles scheint möglich, wenn man über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt, auch ein Kurswechsel bei voller Fahrt mit Frontalzusammenstoß.(12)

Instinkt und Reflexion
Er überlebt, aber lebt er, und wie? Man kann Drive und Driven als eine lange, immer wieder neu ansetzende Meditation über dieses Thema lesen. Interessant ist, dass Sallis sie nicht nur um einen talentierten Einzelgänger kreisen lässt, der sich selbst Gesetz ist. Sondern um jemanden, dessen Berufung, Beruf und Nebenjob (als Fluchtfahrer bei Raubüberfällen) die pure Aktion ist. Driver ist überragend als Fahrer und Kämpfer, seine Reflexe funktionieren automatisch. Und so einer denkt fortwährend darüber nach, welche Signale das Leben gibt, wie sie zu verstehen sind (13), und ob sein Weg seit Kindheit vorherbestimmt war.
Driver ist eine paradoxe Figur: Einerseits handelt und tötet er intuitiv-automatisch, andererseits reflektiert er die Bedingungen, den Erfolg und die Möglichkeit sinnvoller Entscheidungen. Ihm ist bewusst, dass er blind handelt. Und dass er nur handeln kann, wenn er es blind tut.(14)
Sallis entfaltet den Gegensatz zwischen Handeln und Reflexion nicht nur in der Figur Drivers, sondern auch in der Konstruktion des Romans. Deshalb endet Drive auch absolut ungewöhnlich und „unfilmisch“: Statt wie gewohnt im Thriller die Auflösung des Konflikts (in diesem Fall mit den Mafia-Hintermännern Nino und Bernie, die Driver bestrafen wollen und an denen er sich rächen will) in einer beschleunigten Folge von Befreiungsschlägen zu finden, bremst Sallis die Handlung vor dem Showdown völlig ab, fast bis zum Stillstand. Driver erinnert sich an seine Eltern, an seine verlorenen Jugendfreunde, rekapituliert das Thema Entscheidungsfreiheit, auch im Gespräch mit dem Mann, den er – mit Bedauern – wenige Minuten später töten wird: „›Glaubst du, wir suchen uns unser Leben aus?‹ fragte Bernie Rose, als sie zu Kaffee und Cognac übergingen. ›Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass es uns aufgedrängt wird. Mir kommt’s eher so vor, als würde es ständig von unten nachsickern.‹“(15) Selbst im Augenblick, als er Bernie tötet, denkt Driver nach, über „die Gunst der Stunde“. Philosophische Einsicht, die ihre Wahrheit im Kalauer prüft.

Nicht ganz allein
In DrivenDriver 2 – grübelt Driver noch intensiver. Und tötet noch mehr, so beiläufig, dass man es oft kaum merkt. Überhaupt sollte man Driven noch genauer lesen als Drive. Denn hier ist Driver, der sich zeitweilig Paul West nannte, nicht mehr so allein wie im ersten Roman. Eine ganze Gruppe von Figuren, deren Namen alle mit B beginnen – der pensionierte Polizist Bill, seine Tochter Billie und der ominöse James Beil – geben Driver durch ihre Hilfe und Unterstützung fast so etwas wie ein soziales Umfeld. Die Helfertruppe löst sich wieder auf, als Driver die ebenso verworrenen wie zufälligen Ursachen erfährt, aus denen er zwei Bücher und sechs Jahre lang gejagt und zum Töten gezwungen worden war. Driver sich frei nur allein fühlen. Hauptsache, er fährt.
Gute Fahrt!

Tobias Gohlis, Hamburg, im Juli 2013


Anmerkungen:

 1   Driver, Liebeskind 2007, S.20

 2   Driver 2, Liebeskind 2012, S. 156

 3   Interview mit Doris Kuhn in der Süddeutschen Zeitung 26. Juni 2012; http://www.sueddeutsche.de/kultur/drive-autor-james-sallis-im-interview-ich-bin-kein-grosser-autofahrer-1.1393470 aufgerufen 13.7.13

 4   Ich verwende im folgenden die englischen Titel. „Driven“ erschien auf Deutsch als „Driver“ 2007, übersetzt von Jürgen Bürger. „Driven“ wurde 2012 als „Driver 2“ veröffentlicht, übersetzt von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt.

 5    Driver, Liebeskind 2007, S. 158

 6    Driver 2, Liebeskind 2012, S. 127

 7    ebd.

 8   Interview Volker Hummel im Mai 2013, Ms; siehe in gekürzter Form: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2013%2F08%2F03%2Fa0065&cHash=22e51ad82718ba5bea6afd0e62ce59c1

 9    http://www.togohlis.de/03sallis_killer-vorwort.htm

10   Driver, Liebeskind 2007, S. 47

11   Driver 2, Liebeskind 2012, S. 8

12   Driver, Liebeskind 2007, S. 108

13  „Das Leben schickt uns ständig Botschaften – und sieht dann gemütlich zu und lacht sich einen darüber ab, dass wir unfähig sind, aus ihnen schlau zu werden.“ Driver, Liebeskind 2007, S. 35

14  „Sich darüber Gedanken zu machen, warum er oder andere taten, was sie taten, war etwas, das er stets vermied.(..) Handle, wenn es notwendig ist.“ Driver 2, 30

15  Driver, Liebeskind 2007, S., 157

 

Siehe auch: Tobias Gohlis über James Sallis: Driver

Siehe auch: Tobias Gohlis: Vorwort zum Kultkrimi Der Killer stirbt von James Sallis

Siehe auch: Tobias Gohlis über James Sallis: Dunkle Schuld