Tobias Gohlis über James Sallis: Dunkle Schuld




Spätzünder

Gute Sitten hier

Eine kleine Herausforderung

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James Sallis:
Dunkle Schuld

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger

 

 

 

 

 

Freier Wille oder Voodoo?

Wo geht es zur Freiheit? Turner sucht seinen Weg zwischen Rückzug und Verantwortung, Land und Stadt. Im ersten Band einer Südstaaten-Trilogie schickt James Sallis seinen Helden auf unausgetretenen Pfaden zurück ins schwere Leben.

Spätzünder
James Sallis, geboren 1944 in Arkansas, beschreibt sich selbst als Spätzünder. Seinen sieben Jahre älteren Bruder John, der Philosoph wurde, nennt er brillant; seinen ersten fest bezahlten Job hatte er mit 30; er schrieb Lyrik, Science Fiction, Literaturkritik und Essays, bevor er den Kriminalroman entdeckte. Wie üblich verspätet kam er in Deutschland an. Nach einem eher unglücklichen ersten Auftritt in der dahingeschiedenen DuMont-Noir-Reihe (wer wollte, konnte dort u.a. in zwei Büchern seinen schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin kennenlernen) verschaffte ihm der toughe Liebeskind-Verlag in München einen coolen Auftritt mit Driver. Dieser kleine, große Roman über einen Stuntfahrer wurde mit dem Deutschen Krimipreis und von der KrimiWelt-Bestenliste als bester Krimi des Jahres 2007 ausgezeichnet. Jetzt bringt Heyne im Taschenbuch den ersten Band einer Trilogie heraus, der in den USA 2003 unter dem Titel Cypress Grove erschienen ist, ein Titel, der über den Inhalt auch nicht viel mehr sagt als Dunkle Schuld.

Gute Sitten hier
Turner hat sich eine Hütte an einem Ort irgendwo im Hinterland zwischen Memphis und Little Rock ausgesucht, an dem sich die Leute behutsam nähern, wenn sie zu Besuch kommen. „Sie schleichen sich ran, wie man sagt … Vielleicht war das der Grund, warum ich hier war.“ Der Sheriff hat eine Flasche mitgebracht, und sie muss lange kreisen, begleitet von Seufzern, ein paar Worten und langen Blicken auf den See vor Turners Haus, bis der Besucher zur Sache kommt. Ein Obdachloser ist am Zaun eines leerstehenden Hauses gekreuzigt worden. Und Turner soll dem überforderten Sheriff zur Seite springen.

Eine kleine Herausforderung
Der 1944 geborene Sallis ist als Übersetzer von Queneau und Puschkin wie als Mitglied der aufs literarische Experimentieren spezialisierten Gruppe Oulipo mit einer Menge avantgardistischem Wasser gewaschen. In den drei Turner-Romanen, deren erster Band jetzt vorliegt, verfolgt er das Ziel, „einen Serien- oder Klischeecharakter (wie Turner) lebendig zu machen“. In Dunkle Schuld hat er dafür eine Lösung gefunden, die schematisch wirkt, aber einen eigenen melancholischen Effekt hat: In den Kapiteln mit ungerader Ziffer geht die aktuelle Ermittlung im Fall des Ritualmords voran, in den Kapiteln mit geraden Ziffern erinnert sich Turner schubweise an das Leben, das er vor seinem Rückzug geführt hat. Dieses stetige Ritardando bricht die Erwartungsstruktur des Lesers auf und unterlegt den Hauptstrang der Handlung mit einem Blues-Sound aus Vergeblichkeit, Trotzdem-Durchhalten und Selbstzweifel. Stetiges Thema: „Vermissen Sie die Stadt?“ will eine Freundin wissen, mit der er auf der Veranda sitzt. „Die Stadt ja“, antwortet Turner. „Aber nicht den Menschen, zu dem ich in der Stadt geworden bin.“ Das Land als moralisch klarere Welt? Dreimal hat Turner geschossen, dreimal getötet. Er war als Soldat „durch Grün gekrochen“ und hatte zweieinhalb Jahre auf sich schießen lassen, war Polizist gewesen und hat elf Jahre Gefängnis und weitere Jahre als Therapeut (übrigens wie Sallis) hinter sich. Und noch immer hat er keine Antwort auf die Grundfragen gefunden. Lassen wir uns von Werten und Idealen leiten – oder sind dies „Geschichten, wie Voodoo-Geister in lebendigen Körpern wohnen, die sie Pferd nennen?“ Dieser James Sallis ist ein erstaunlicher Autor. Ich warte auf Turner, Band zwei.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in buchjournal 4-09, August 2009

Siehe auch: Tobias Gohlis: Vorwort zu den Kultkrimi James Sallis: Der Killer stirbt

Siehe auch: Tobias Gohlis über James Sallis: Driver

Siehe auch: Tobias Gohlis: Vorwort zu den Kultkrimis Driver und Driver 2 von James Sallis