Tobias Gohlis über den Plagiatsvorwurf gegen „Tannöd“




Das Reservoir der eigenen Erinnerungen

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Andrea Maria Schenkel: Tannöd

 

 

 

 

 

Soll die Kolportage siegen?

Von Andrea Maria Schenkels Tannöd sind bis heute ungefähr 300.000 Exemplare und zahllose Hörbücher verkauft worden. Kaum einer der geschätzt 500.000 Leser oder Hörer, denen dieser Debütroman gefallen hat, wird wissen oder sich auch nur dafür interessieren, dass die beklemmende Geschichte um den Mord an der Familie Danner ein Vorbild hat. Das ist dem Journalisten und Sachbuchautor Peter Leuschner auch erst dann auf den Nerv gegangen, als Tannöd nach ersten Meriten auf der KrimiWelt-Bestenliste gegen Ende letzten Jahres wie ein Komet am sonst eher umwölkten deutschen Krimihimmel aufging und zum Bestseller wurde. Da kam Peter Leuschner die Idee, Andrea Maria Schenkel des Plagiats zu beschuldigen. Sie habe, so ließ er seit März diesen Jahres jeden, der es vernehmen wollte, über seine Anwälte wissen, große Teile von Tannöd seien aus seinem Buch Der Mordfall Hinterkaifeck — Spuren eines mysteriösen Verbrechens abgeschrieben. Nachdem nun Peter Leuschners Hinterkaifeck-Buch im Kielwasser von Tannöd seine maximale denkbare regionale Verbreitung erfahren hat, ist tatsächlich beim Landgericht München I Klage eingereicht worden. Leuschner fordert 500.000 € Schadenersatz, der Vertrieb soll bis zur Gerichtsverhandlung am 20. Februar 2008 unterbunden und danach das Buch eingestampft werden. Falls die juristische Entscheidung zuungunsten von Andrea Maria Schenkel ausfiele, wäre dies, ästhetisch betrachtet, der Sieg der Kolportage über die Literatur, der Stillosigkeit über den Stil, des Provinzialismus über die Aufklärung.

Das Reservoir der eigenen Erinnerungen
Im Eifer über die Plagiatsvorwürfe wird allzu leicht übersehen, was Andrea Maria Schenkel eigentlich geleistet hat. Indem sie den historischen Fall, der in Gestalt von Theaterstücken, Filmen, Sachbüchern und Artikelserien immer schon Bestandteil der bayrischen Folklore war, in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlegte, gewann sie Intensität durch den Rückgriff auf das Reservoir ihrer eigenen Erinnerungen. Für sie war der Einödhof Tannöd der Hof ihrer Tante bei Regensburg und die bigotte Beschränktheit der dörflichen Umgebung die Welt, aus der sie immer schon fliehen wollte. Als Peter Leuschner seinen Plagiatsvorwurf erhob, meldeten sich die Nachfahren des Heimatschriftstellers Josef Ludwig Hecker, der den Fall Hinterkaifeck bereits 1972 „literarisch“ aus den Akten gestaltet hatte, und ziehen ihrerseits Leuschner des Abschreibens. Den Schriften Heckers und Leuschners gemeinsam ist der Versuch, sich so dicht wie möglich ins Innere der Mordopfer zu versetzen, die schon am Abend vor ihrer Abschlachtung bangen und zittern und beim Heulen des Windes sorgenvoll die Stirne runzeln. Diese Sprache trivialer Fiktionalisierung zweifelt nicht. Das, was man sich sowieso schon vorstellen kann, wird klischeehaft überdichtet. Ganz anders Andrea Maria Schenkel: Indem sie die Aussagen von Zeugen, Nachbarn und Beteiligten wie Dokumente zitiert, schafft sie einen Raum des Zweifels, des Nichtwissens. Feindseligkeiten werden hier — unausgesprochen — deutlich, Gerüchte, Nachrede erkennbar. Das Versagen und die Hilflosigkeit der alltäglichen Sprache (und auch das der rituellen Fürbittegebete) angesichts des unerklärlichen Einbruchs der Gewalt wird bewusst und damit Literatur. Und nur diese Sprache ist imstande, den Opfern ihre Menschlichkeit zurückzugeben. Während die Kolportage sie in Objekte der Sensationsgier verwandelt.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Der literarischen Welt am 11.8.2007

Siehe auch: Tobias Gohlis über Bunker

Siehe auch: Tobias Gohlis über Kalteis

Siehe auch: Tobias Gohlis über Tannöd

Siehe auch:
Eine Doppelrezension von Andrea Maria Schenkel und Magdalen Nabb

Siehe auch: Tobias Gohlis besucht Andrea Maria Schenkel