Tobias Gohlis besucht Andrea Maria Schenkel



Hinterkaifeck

Bayrische Folklore

Kolportage – und Literatur

Wie wird man Schriftstellerin?

Angst vor Rechtschreibfehlern

Einbruch der Gewalt

Nur Übungsstücke


 

 

Geschichten aus dem Abgrund

Zu Besuch in Pollenried

In dieser Ecke der Welt lauert das Klischee. Blühende Disteln, ein altes Bauernhaus, in der Küche der Herrgottswinkel – da kommen Worte wie „Idylle“ wie von selbst auf. Und „Scheinidylle“ gleich hinterher. Auf dem Küchenboden von Familie Schenkel ist ein Haufen toter Fliegen zusammengekehrt. „Das kommt vom Nachbarn rüber, der hat da irgendwelches dreckliches Zeug gelagert.“ Und schon erzählt Andrea Maria Schenkel eine dieser nicht endenden Dorfgeschichten von üblen Nachbarn und generationenübergreifenden Fehden. Pollenried, zehn Autominuten von Regensburg. Hier ist Tannöd entstanden, auf dem Wohnzimmersofa. Abends und nachts, wenn der Ehemann, ein Hals-Nasen-Ohrenarzt, sich fortbildete und die Kinder im Bett waren. Da hat Andrea Maria Schenkel sich mit dem Laptop aufs Sofa gehockt, Welt und Nachbarn vergessen und den Roman geschrieben, der ihr Leben veränderte. Und den deutschen Kriminalroman. Tannöd wurde zu einer Erfolgsgeschichte wie lange keine mehr.

Hinterkaifeck
Der Fall, den Schenkel aufgriff, ist bayrische Kriminalfolklore. „Vermutlich habe ich schon als Kind von Hinterkaifeck gehört.“ Da saß Andrea bei der Großmutter, die bis ins hohe Alter auf dem Markt Rettich verkaufte, und hörte ihren Geschichten zu, von der Armut, von den Heiligen und – am liebsten – schaurige. Die „Wilde Jagd“ ist so eine. In Tannöd denkt die achtjährige Marianne daran, als sie verdächtige Geräusche aus dem Stall hört. Unter einem Bündel Stroh wird man sie dort Tage später finden, mit einer Haue erschlagen, neben der Mutter und den Großeltern, notdürftig von Stroh bedeckt. So ist es vor mehr als achtzig Jahren 1922 tatsächlich im Einödhof Hinterkaifeck bei Ingolstadt geschehen. Als seit Tagen keine Lebenszeichen mehr von dem abgelegenen Hof herübergelangten, machten sich Nachbarn auf und fanden vier Leichen der Familie Gruber im Stall. Im ersten Stock lagen die Magd erschlagen in ihrer Kammer und der zweijährige Josef in seinem Kinderbettchen. Der Fall erregte ungeheures Aufsehen. Rätselhaftes – ein Unbekannter hatte mehrere Tage lang nach dem Mord das Vieh versorgt – und die gerichtsnotorische inzestuöse Beziehung zwischen dem Altbauern und seiner Tochter heizten die Spekulationswut an. Ermittelt - und verdächtigt - wurde in alle Richtungen. Bis heute ist der Fall unaufgeklärt, noch vor kurzem hat die Münchner Kriminalpolizei in einer letzten Anstrengung versucht, die wenigen erhaltenen Fakten und Verweise zu analysieren. Hinterkaifeck ist eine Wunde, die in der Generation der Kinder und Enkel weiterschwelt. „Noch in den Akten aus den neunziger Jahren findet man solche Verdächtigungen: Der hat ein Huhn geklaut, der war der Mörder!“

Bayrische Folklore
Hinterkaifeck kocht alle paar Jahre hoch. Seit der Heimatschriftsteller Josef Ludwig Hecker 1951 in einer Artikelserie den sechsfachen Mord wieder ins sensationsbedürftige Gedächtnis gerufen hat, sind etliche Theaterstücke, Filme und Sachbücher entstanden, die mal diesen, mal jenen schaurigen Aspekt ausmalen. In dieser Tradition steht Tannöd – und lässt sie zugleich völlig hinter sich. Welch ein Kontrast zwischen Kolportage und Literatur. Kolportierer wissen Bescheid: Was der Altbauer gedacht hat, welche Träne der Bäuerin im Auge hing und welches Lächeln der Tochter im Mundwinkel. Ihre Sprache ist die des dreisten Hineinversetzens, des sensationellen Ausmalens und der Verdächtigung.

Kolportage – und Literatur
Ganz anders die Sprache, die Andrea Maria Schenkel in Tannöd gefunden hat. Sie stockt, zweifelt, versagt, ist hilflos wie die Aussagen der Zeugen. Statt triumphalem „So war es!“ tastende, scheue und dadurch auch verräterische Worte über die Toten, über das, was die Zeugen am Tatort gesehen haben. Hilflose Versuche, das Mordgeschehen zugleich zu verstehen und von sich fernzuhalten. Furchtsam umkreisen die Aussagen der Zeugen das Unaussprechliche. Eingeflochtene rituelle Fürbittegebete, Beschwörungen der Ohnmacht, steigern die Atmosphäre der Hilflosigkeit ins Unerträgliche. Selten wurde der existenzielle Skandal des Todes so eindringlich dargestellt, von dem Kriminalliteratur doch handeln will. Nicht um Fakten oder Indizien geht es Andrea Maria Schenkel, sondern um die innere Wahrheit, vor der Kolportage und Klischee kapitulieren. In Tannöd hat sie einen überzeugenden Weg gefunden. Aber wie? Es muss Intuition gewesen sein, der Instinkt des großen Talents. Die ästhetischen Entscheidungen, von denen sie spricht, können jedenfalls die Formbewusstheit des Debüts nicht ausreichend erklären.

Wie wird man Schriftstellerin?
Wie wird man zur Schriftstellerin? Der Erfolg, der unerwartet über die Debütantin hereinbrach, die vorher nicht eine Zeile veröffentlicht und nicht eine Schreibwerkstatt besucht hat, macht die vorausgegangenen Kämpfe vergessen. Der jung verstorbene Großvater, ein Handwerker, hat zwar Gedichte geschrieben und mehrere Sprachen gesprochen. Aber die Schriftstellerei war Andrea in nicht die Wiege gelegt. Ihre Eltern waren Angestellte, und nach der Mittleren Reife lernte sie bei der Post. Dreizehn Jahre hat sie da gearbeitet, zuletzt als Lehrbeamtin in der Ausbildung. Schreiben hat sie schon immer wollen, gemalt hat sie auch. Ihren Mann hat sie über die gemeinsame Liebe zu Kandinsky kennengelernt. Als die Kinder kamen – die Jungen sind 15 und 11, das Mädchen ist 8 – hat sie mit Malen aufgehört. Ölfarben und Lösungsmittel gehörten nicht in die Kinderstube. Nur noch einmal hat sie zum Pinsel gegriffen, dreizehn ungegenständliche Bilder in sechs Wochen, für die Arztpraxis ihres Mannes.

Angst vor Rechtschreibfehlern
Auf das Schreiben hat sie sich durch Lesen vorbereitet. Oskar Maria Graf, Dürrenmatt, Vargas Llosa hat sie studiert, hat Notizen über Schreibtechnik und Figurenführung angefertigt. Auslöser wurde der frühe Krebstod einer engen Freundin. Andrea Maria Schenkel begriff, wie wenig Zeit man hat. Als sie einen Artikel in der Süddeutschen über Hinterkaifeck fand, wusste sie: Das ist meine Geschichte. Außer ihrem ältesten Sohn wusste niemand Bescheid. „Ich kann es nämlich nicht ertragen, wenn man mir über die Schulter guckt.“ Ein Schultrauma der Linkshänderin. Nie war sie schnell genug im Diktat, auch nicht mit ärztlichem Attest, das ihr erlaubte, mit der bösen Hand zu schreiben. „Bis heute habe ich panische Angst vor Rechtschreibfehlern.“ Das Manuskript loszuschicken, war wie das Überschreiten einer Grenze. Da war sie zu allem entschlossen: „Zur Not hätte ich es im Eigenverlag herausgebracht.“ Noch schwerer, gesteht sie, ist ihr die Abgabe des Manuskripts zu Kalteis gefallen, dem Roman, der jetzt im August erschienen ist. Noch einmal überfielen sie die Ängste der Linkshänderin.

Einbruch der Gewalt
Wieder geht es um das „Unsagbare“, um Lebensvernichtung, um den Einbruch der Gewalt. Wie in Tannöd fügen sich Erzählsplitter und Zeugenaussagen zu einem Patchwork aus Blut und Mord. Kalteis beruht auf Polizeiakten zur einem historischen Fall. Zwischen 1931 und 1939 ermordete Johann Eichhorn, der „Schrecken des Münchner Westens“, fünf Frauen. Der Roman beginnt mit seiner Hinrichtung. Gehenkt wird ein Nichts von Mann, das sich als Opfer seines Triebes bejammert. Erzählt wird von seinen Opfern in einer lakonischen Dramaturgie des Entsetzens und des Mitleids. Im Mittelpunkt steht die letzte Woche der sechzehnjährigen Kathie, die voll Hoffnung auf eine gute Stelle vom Land in die Stadt kommt, weder Arbeit noch Unterkunft findet, sich Männern andienen muss für ein Nachtquartier und etwas Essen, und dann von Kalteis umgebracht wird. Fünf Frauen werden ermordet, doch erzählt wird wenig vom Täter. Sondern, mit der Unausweichlichkeit von Küchenlied und Tragödie, von der Tat. Mit jedem Mord werden die Details präziser, wächst im Leser das Entsetzen über das Unausweichliche. Bis Mitleid und entsetzen mit der akribischen Beschreibung der Zerstörung und Zerstückelung Kathies zusammenfallen. Das verfolgt einen bis in den Schlaf.

Nur Übungsstücke
Kaum sind die Leseexemplare von Kalteis ausgeliefert, klingelt in Pollenried das Telefon. Die Kinder gehen schon gar nicht mehr dran. Während sie Interviewtermine verabredet, ist Andrea Maria Schenkel innerlich schon in Irland, wo sie endlich anfangen kann mit dem nächsten Buch. Viel hat sie vor. Deshalb hat sie sich auch nie auf eine Kommissarfigur einlassen wollen. Dessen Biographie hätte die Entwicklung nur behindert, die sie in sich spürt. „Vielleicht sollte ich das ja nicht sagen, aber für mich sind Tannöd und Kalteis so etwas wie Übungsstücke. Die Fakten der historischen Fälle, die waren so etwas wie eine Sicherheitsleine für mein Schreiben.“ So begeistert ist sie, dass das strikte Verbot durchbricht, über den kommenden, noch ungeschriebenen Roman zu sprechen. Sie eilt ins Wohnzimmer, wo sie aus dem Schrank eine Rolle aus Papier holt. Es ist ihre Zeitrolle, auf der sie Handlungspunkte und historische Ereignisse des neuen Romans angetragen hat. „Das muss ich Ihnen zeigen! Ich bin so stolz darauf“, sagt sie und rollte sie auf dem Küchenboden aus. Über vier Meter ist sie lang, lauter aneinandergeklebte DIN-A4-Blätter. Eins steht fest: der nächste Roman von Andrea Maria Schenkel wird mehr als 150 Seiten umfassen.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in buchjournal 3/2007 September 2007

Siehe auch: Tobias Gohlis über Bunker

Siehe auch: Tobias Gohlis über Kalteis

Siehe auch: Tobias Gohlis über Tannöd

Siehe auch:
Eine Doppelrezension von Andrea Maria Schenkel und Magdalen Nabb

Siehe auch: Tobias Gohlis über den Plagiatsvorwurf gegen Tannöd