Tobias Gohlis über Andrew Taylor: Das Recht des Fremdlings und Die vier letzten Dinge




Haarrisse in der Dorfhamonie

Schrecken pur

Der Name des Entsetzens ist Taylor

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Andrew Taylor: Die vier letzten Dinge
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Das Recht des Fremdlings
Aus dem Englischen von Sonja Hauser

 

 

 

 

 

Stille Schrecken in Roth

Roth, ein Vorstädtchen bei London, ist ein Ort, wie sie die englischen Kriminalschriftsteller von Agatha Christie bis Val McDermid, von Gilbert K. Chesterton bis Michael Innes seit jeher als Schauplätze feinstverworrener Fälle ausgesucht haben und lieben. Die Kirche, das Herrenhaus, ein Pub und ein trüber Bach - das sind die topographischen Merkmale englischer Kriminalidyllen, unterminiert von zerstörerische Leidenschaften.

Haarrisse in der Dorfharmonie
Und wie in jeder dieser Gemeinden gibt es auch in Roth die alleinstehende frömmelnde Frau in den Wechseljahren: Audrey Oliphant. "Das Leben dieser Frauen dreht sich um die Pfarrkirche, und in gewisser Hinsicht dreht die anglikanische Kirche sich um diese Frauen." Doch Pfarrer David Byfield, der die nach Schweiß, Sherry und Glaubenseifer riechende Leistungsträgerin seines Sprengels so herablassend charakterisiert, hat wenig Veranlassung zu Häme. Trotz seines mittleren Alters und einer in zehn Jahre währendem Zölibat gestählten Zurückhaltung ist der Witwer immer noch nicht Herr seiner Sinne und gerät in Wallung, sobald ihm ein attraktives weibliches Wesen unter die Augen kommt. Im Triebstau entgehen dem in guter puritanischer Seelenselbstzerquälungstradition verstrickten Pfarrer und Ich-Erzähler von Andrew Taylors Das Recht des Fremdlings all die feinen Haarrisse, die die Dorfharmonie durchziehend auf die Katastrophe vorausdeuten.
Auch die Heirat mit hübschen Verlegerin Vanessa bringt dem konservativen Kirchenmann keine Erleichterung. Gequält vom baldigen sexuellen Desaster seiner Ehe, gerät Byfield in den erotischen Sog eines zugezogenen Hippiemädchens. Weder die Entfremdung von Tochter Rosemary noch die brodelnde Eifersucht Audrey Oliphants nimmt er wahr. Schwankend zwischen Scham über die eigene "Befleckung" und unstillbarer Lust, ist der Seelenhirte außerstande, seines Amtes walten. In Mord und Brand lösen sich auf den allerletzten Seiten dieses feinen Schauerromans die schwelenden Konflikte: zwei Tote bleiben auf der Strecke, eine Person landet im Irrenhaus, und eine im Gefängnis.
Das Recht des Fremdlings ist ein eigenständiger Roman und zugleich der zweite Band einer Trilogie, in der Andrew Taylor die Wurzeln eines Verbrechens erforscht. Dabei kehrt er die übliche der Entwicklung gehorchenden Reihenfolge um und beginnt die Roth-Trilogie in der Gegenwart, um dann in die siebziger und die fünfziger Jahre zurückzugehen.

Schrecken pur
Wer also den trügerischen Dorffrieden des in Roth handelnden zweiten Bandes richtig genießen will, sollte mit der Lektüre des ersten beginnen. Der ist unter dem Titel Die vier letzten Dinge im Herbst 2000 auf deutsch erschienen. In Die vier letzten Dinge erweist sich der Taylor als ein Meister des Grauens. Lucy, die vierjährige Tochter einer Diakonin und eines Detektivsergeants, wird von einem psychopathischen Pärchen entführt. Getreu seiner Maxime "Das wirksamste Werkzeug des Schriftstellers ist die Imagination seines Lesers" steigert Taylor das Entsetzen so sehr, dass selbst hartgesottene Krimileser - ich verbürge mich als Zeuge - Albträumen verfallen. Während er um das Schicksal des entführten Kindes bangt, weiß der Leser immer weniger, welchen Ausgang er der hilflosen Lucy wünschen soll: den Tod durch die Entführer oder Rettung und Rückkehr in den aus Bigotterie, Gefühlskälte und Seelenangst geschmiedeten Käfig ihrer Kleinfamilie. Alle Mittel des Schocks setzt Taylor ein, um seiner dreibändigen Recherche nach den Wurzeln des Bösen Intensität zu verleihen. So muss die verzweifelte Mutter die tief gefrorenen Körperteile anderer ermordeter Kinder identifizieren.

Der Name des Entsetzens ist Taylor
Doch liegt Taylor nichts ferner als die plumpen Metzgereffekte, die Thomas Harris in Hannibal bemüht. Taylor ein Vivisekteur der Seelen. Die vier letzten Dinge ist eines der entsetzenerregendsten Bücher der letzten Jahre.

Unredigiertes Manuskript, erschienen in DIE ZEIT Nr. 09/2001