Tobias Gohlis im Gespräch mit Fred Vargas

 

Fred Vargas
Foto © 2012 Louise Oligny,
mit frdl. Genehmigung des
Aufbau-Verlages


Eine ganz normale
Familie?

Der erste Krimi

Krimimusik

Knöchelchen und Fliegen

Adamsberg

Angst

 

 

Gegen die Angst: Krimis

Als Krimiautorin verfügt sie über eine einzigartige und unverwechselbare Stimme. Fred Vargas ist eine der besten und einfallreichsten Krimischriftstellerinnen Europas. Und sie ist scheu. Tobias Gohlis und Martin Schöne trafen 2006 die Bestsellerautorin, Archäozoologin und streitbare Menschenrechtlerin, die eigentlich Frédérique Audoin-Rouzeau heißt, in ihrem Pariser Verlag.

GOHLIS: Fred, wie spricht man Ihren Namen aus? Spanisch Várgas oder…

FRED VARGAS: Französisch: Vargáss. Es ist der Name meiner Zwillingsschwester, der falsche Name einer falschen Schwester.

GOHLIS: Sie spielen darauf an, dass zweieiige Zwillinge im Französischen "fausses jumelles" – falsche Zwillinge genannt werden.

FRED VARGAS: Ja, ich bin 10 Minuten jünger als meine Schwester Joëlle.

GOHLIS: Ihr neuer Roman Die dritte Jungfrau wird auffällig von Doppelpersönlichkeiten bestimmt: Eine "dissoziierte", gespaltene Person ist zentral, deren mörderische und deren zivile Hälfte nichts voneinander wissen, Kommissar Adamsberg erwächst ein Rivale. Sind das Spiegelungen einer Zwillingsproblematik?

FRED VARGAS: Spontan hätte ich gesagt: Ich interessiere mich nicht für Doppelpersönlichkeiten. Aber jetzt denke ich, dass das vielleicht nicht so verkehrt ist. Ein Zwilling ist immer genötigt, sein Leben in Bezug auf den anderen zu erleben. Man hat immer eine Doppelpersönlichkeit zu verwalten, denn man trägt ja zugleich auch seinen Zwilling. Es stimmt, dass, unbeabsichtigt, das Thema Zwei in Einem oder Zweimal Einer wiederkehrt.

GOHLIS: Sie sind in eine Familie geboren, in der Kultur hochgehalten wird. Ihr Vater Philippe Audoin war Surrealist, Ihr Bruder Stéphane ist ein bekannter Historiker und ihre Schwester Jo Vargas Malerin.

Eine ganz normale Familie?

FRED VARGAS: Das klingt, als sei sie etwas Besonderes…Dabei ist das ist eine ganz normale Familie. Ich spreche hier zum ersten Mal über meine Familie … Als ich Kind war, sah ich meinen Vater abends schreiben. Eigentlich hatte er einen ganz anderen Beruf. Aber seine Leidenschaft war die Literatur. Und so dachte ich als Kind, dass das in allen Familien so ist, dass der Vater nach der Arbeit schreibt. Meine Mutter ist Wissenschaftlerin, Chemikerin. Sie stellt den methodischen Teil der Familie dar. Das war auch notwendig. Sonst wären wir wohl etwas aus der Bahn geraten. Ich wurde von meinem Vater zum Lesen von Literatur angehalten für die ich damals viel zu jung war, denn von Nerval und Baudelaire verstand ich nichts. Wir Kinder bemühten uns, seinen Erwartungen zu entsprechen. Ohne Erfolg natürlich. Denn seine Erwartungen waren wirklich zu hoch. Ich studierte Archäologie, also ein Fach, das wissenschaftlich und nicht literarisch ist.

GOHLIS: Und wie sind Sie dann zur Kriminalliteratur gekommen?

Der erste Krimi

FRED VARGAS: Zunächst habe ich nur einen einzigen Kriminalroman geschrieben zur Entspannung. Das war 1986, als ich auf dieser Ausgrabungsstätte in der Provence war. Ich saß neben der Fundstelle und spielte Akkordeon. Und genau an diesem Abend erkannte ich, dass ich auf dem Akkordeon nicht gut bin, eine Niete. Also setzte ich das Akkordeon ab und beschloss, etwas anderes zu finden, was ich nebenbei machen kann, um Spaß zu haben. Und da ich Kriminalromane sehr mochte, überlegte ich, ob ich einen Kriminalroman schreiben könnte. Ich habe fünf Minuten lang überlegt. Und am nächsten Tag kaufte ich im Laden nebenan ein Heft und einen Füller. So war das. Wegen des spielerischen Anspruchs und nicht: Oh, ab morgen schreibe ich einen großen Roman. Nein, nein.

GOHLIS: Was hat Ihr Vater, der Literat, zu dem ersten Roman gesagt?

FRED VARGAS: Davon habe ich meinem Vater nichts erzählt. Er war damals schwer krank und verabscheute Kriminalromane. Eines abends war ich zu Hause und er sagte zu mir: "Meine Tochter, wie es scheint, schreibst du dummes Zeug." Ich habe gelacht. Als ich es ihm zeigen wollte, in der Woche darauf, war er schon gestorben. Im Nachhinein stimmt das nachdenklich. Dieses Buch war wirklich unglaublich schlecht geschrieben. Er hätte mir das gesagt. Er war immer ehrlich. Danach hätte ich das Schreiben sofort aufgegeben. Er war jemand, dem man gehorchte. So habe ich weiter geschrieben.

Krimimusik

GOHLIS: Sie haben die Musik in Ihr Schreiben überführt. Kann man Ihr Schreiben mit der Tätigkeit eines Komponisten vergleichen?

FRED VARGAS: Man muss auf die Noten im Satz achten, auf die Noten des vorherigen Satzes und auf den Satz im Dialog mit dem folgenden Satz, denn das sind zwei Instrumente, die einander antworten. So, wie ich mir vorstelle, dass ein Musiker beim Komponieren einer Symphonie vorgeht, ist es auch beim Komponieren einer Geschichte. Ich schreibe oft mehrere Schlüsse. Es gibt Personen, die ich nicht genügend aufgegriffen habe, und deren Musik ich erneut hören möchte.

GOHLIS: Wonach entscheiden Sie, Klang oder Sinn? Manchmal wechsele ich ein Adjektiv aus, das für den Sinn weniger treffend ist, aber besser für den Klang. Oder ändere auch seine Länge, wegen des Rhythmus. Aber das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich denke, dass jeder, der schreibt, auf die Musikalität der Worte achtet. Wenn man die Sprache einer Unterhaltung aufzeichnet und dann so in das Buch überträgt, geschieht etwas Kurioses. Einmal aufgeschrieben, erscheint sie falsch. Man erhält, wie auch in den, übrigens schlecht gemachten, Fernsehserien, eine Sprache, die zu dicht an der Realität klebt, die falsch, vulgär und dumm ist. Die Fiktion nimmt das Leben, unser Leben, und steckt es in eine Hülle, vergleichbar mit dem Futter eines Kleidungsstücks. Diese Umformung zur Musik ist nicht nur eine Frage des Geschmacks. Sie ist erforderlich, wenn man dieses Produkt, dieses andere Leben schaffen will, mit dem man unser reales Leben ständig füttert und das man für die Fantasie und zum Träumen braucht. Denn dort spielt eine andere Musik.

GOHLIS: Das klingt sehr durchdacht, sehr geplant.

FRED VARGAS: Ich bin in meiner wissenschaftlichen Arbeit sehr analytisch, sehr rational, aber nicht beim Kriminalroman. Ich entscheide nicht im Voraus, was ich machen werde, wenn ich einen Roman schreibe.

Knöchelchen und Fliegen

GOHLIS: Trotzdem tauchen viele Gegenstände aus Ihrer wissenschaftlichen Arbeit plötzlich in Ihren Büchern auf. Um diesen "bois", das Geweih und den Knochen im Herzen eines Hirschs, zur zentralen Metapher eines Romans zu machen wie in der Dritten Jungfrau muss man sich schon mit Zoologie und dem Mittelalter auskennen. Wie finden Sie diese Metaphern?

FRED VARGAS: Das einzige, was man machen kann: Vor dem Einschlafen erzählt man sich Geschichten. Und das wirklich jeden Abend, sonst kann ich nicht einschlafen. Dann kommen viele Dinge. Plötzlich, wie bei den geöffneten Fenstern eines Hauses, kommen Fliegen herein, bringen diese Fliegen einfache Ideen, wie den Knochen im Herzen des Hirschs. Und ich sage mir, das ist lustig, aber was soll ich damit anfangen? Aber er geht nicht fort. Dann kommt eine andere Fliege, und mit all diesen Dingen, die keinen Sinn ergeben, von denen ich im Voraus nicht weiß, dass sie symbolträchtig sein können, versuche ich, eine Geschichte zusammenzustellen. Erst beim Schreiben finde ich dann, dass man mit dem Hirsch etwas anfangen kann, mit allem, was ich von diesem Tier weiß, das die Ewigkeit darstellt.

GOHLIS: Ihr Vater, der Surrealist wäre sehr stolz auf Sie.

FRED VARGAS: Ich weiß nicht. Diese Surrealisten, die gingen mir wirklich auf die Nerven.

Adamsberg

GOHLIS: Verstehen Sie Ihren Kommissar Adamsberg?

FRED VARGAS: Adamsberg kann ich selbst nicht ganz erfassen. Sein Kopf ist frei, ohne Tunneldenken. Ich stelle mir seine Intelligenz wie die Türen der Saloons im Western vor, die ständig auf und zu schwingen und sich niemals richtig schließen lassen. Bei uns, den Normalen - er ist, glaube ich, nicht ganz normal - sind die Türen des Unterbewusstseins im Allgemeinen ziemlich verschlossen, außer im Traum. Er registriert den Fluss des Lebens in dessen Gesamtheit, die er analysieren kann, wohingegen wir nur ein unvollständiges Abbild erfassen. Er lebt fast komplett. So kann er woanders Elemente für Antworten finden als wir. Anhand von Dingen, die uns nebensächlich erscheinen, die in Wirklichkeit aber vom Fluss des Lebens angeschwemmt wurden, die wir aussortiert haben. Und er sortiert nicht. Das ist schon fast eine Behinderung, aber er muss mit dieser Behinderung leben, die sich dann umkehrt. Aber ich kenne ihn nicht. Ich arbeite überhaupt nicht so. Ich weiß nicht, warum er so handelt, warum er schwebt, warum er offen, porös ist. Wenn er die Absicht äußerte, mich treffen zu wollen, würde mich das eher beunruhigen.

Angst

GOHLIS: Warum ist das Thema Angst so zentral für Ihr Schreiben?

FRED VARGAS: Ich werde Ihre Frage präzisieren. Nicht die Angst als solche interessiert mich. Mich interessiert, wie man die Angst überwindet. Ich glaube übrigens, dass das die grundlegende Zielsetzung des Kriminalromans und von jeher aller Märchen und Sagen und Mythen ist und auch der Grund für die Beschaffenheit des Helden, der per Definition keine Angst hat, wie Adamsberg. Er hat niemals Angst, auch nicht vor dem Tod. Der Kriminalroman inszeniert die Angst durch die Gefahren, die Atmosphäre etc. und führt eine Lösung herbei. Im Moment der Lösung, das ist die alte Katharsis der Griechen, kommt man mit dem Leben besser zurecht. Es heißt, der Kriminalroman sei Ende des 19. Jh. entstanden. Diese Meinung teile ich überhaupt nicht. Heute sagt man, der Kriminalroman lege Zeugnis ab von sozialen Zuständen. Das glaube ich überhaupt nicht. In der Vorgeschichte, ca. 12000 vor J.C., haben sich die Menschen in schwarzer Nacht um ein Feuer sitzend, umgeben von Tieren, von Gefahren, von der Kälte in der Eiszeit Geschichten erzählt, in denen sie Gefahren heraufbeschworen haben, sie sogar übertrieben und dann gelöst haben. Da liegt die Notwendigkeit des Kriminalromans. Deshalb bleibe ich im allgemeinen sehr klassisch aus Respekt vor dieser Gattung, die der frühesten Geschichte entstammt und uns hilft, mit dem Leben zurecht zu kommen. Ich träume vor mich hin und frage mich: Was könnte mir richtig Angst machen? Wie kann ich sie überwinden?

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Weltvom 7.4.2007

Siehe auch: Tobias Gohlis über Das Orakel von Port-Nicolas

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der verbotene Ort

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der vierzehnte Stein

Siehe auch: Tobias Gohlis über Die dritte Jungfrau