Tobias Gohlis über Fred Vargas: Der vierzehnte Stein

 


Fred Vargas: Der vierzehnte Stein.

Aus dem Französischen von Julia Schoch

 

 

Wolkenschaufler und Menschenberg

Fred Vargas hat lange geschwankt, welcher Leidenschaft sie nachgeben sollte, dem Akkordeon, das sie artistisch beherrscht, oder dem Kriminalroman. Hätte sich die 48jährige Französin für die Musik entschieden, wäre nicht nur die Kriminalliteratur ärmer. Es gäbe auch keinen Adamsberg.

Adamsberg ist eine schöne dunkle Seele. Man wundert sich, dass ihm nicht noch mehr Frauen nachlaufen. Wenn es gerecht zuginge in der Welt, schliefe er keine Nacht allein. Adamsberg ist Chef der Mordbrigade im 13. Pariser Arrondissement, heißt mit Vornamen Jean-Baptiste und stammt aus einem Dorf in den Pyrenäen. „Ich sehe Ideen“, sagt er, wenn seine Kollegen wieder einmal rätseln, warum der Mann in katatonisches Schweigen verfällt, während um ihn herum die Ermittlungen toben. Als er vor beinahe fünfzehn Jahren (in Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord) seine Arbeit als Kommissar aufnahm, kanzelte eine Vorgesetzte den Gebirgler ab: „Sie haben nichts bei der Polizei verloren. Die Polizei ist nicht der Wald.“ Doch der „Wäldler“ war es, der in stoischer Selbstgewissheit alle wirklich rätselhaften Morde aufklärte, mit einer Methode, die niemand verstand, auch er nicht. Einer hat mal versucht, Adamsberg zu beschreiben: „Du tust keinen Strich, du sitzt da, trödelst rum, träumst, betrachtest die Wände, kritzelst auf den Knien kleine Skizzen auf Zettel, als ob du die Weisheit gepachtet und das ganze Leben vor dir hättest, und dann kommst du eines Tages unbekümmert und freundlich an und sagst: Man sollte den Herrn Pfarrer verhaften, er hat den Kleinen erwürgt.“

Jetzt sitzt der Waldmensch, der Gebirgs-Adam, der scheinbar Unüberwindliche, in der Klemme. Weil man in Québec besser mit Pipette und DNA-Screen umgehen kann als im alten Frankreich, ist Adamsberg mit einem Teil seiner Truppe zur Fortbildung in Kanada. Dort begegnet ihm Noëlla, eine junge Schöne aus Paris. Sie spricht von sich in der dritten Person und macht sich an den Bergmenschen heran, der, einsam wie er ist, nicht widerstehen kann. Dann hat er einen Blackout, und das Mädchen liegt tot am Fluss. Mit drei Stichwunden im Unterleib, die exakt auf die gleiche Weise angeordnet sind wie in dreizehn anderen Fällen.

10.000 Meilen von zu Hause ist Adamsberg auf den Dämon seiner Familie gestoßen. Es ist ein kaltherziger, machtversessener Richter, den er verdächtigt, seit beinahe dreißig Jahren ausgesuchte Menschen mit einem Dreizack zu ermorden. Mit seiner staatlichen Macht und einigen Tricks ist es ihm bisher immer gelungen, einen anderen als Schuldigen zu präsentieren und selbst nicht einmal in Verdacht zu geraten. Nur Adamsberg, der als junger Polizist seinem als Dreizackmörder beschuldigten Bruder zur Flucht verhalf, glaubt, die Blutspur dieses henkenden Richters durch Raum und Zeit verfolgen zu können.

Doch nun muss er doppelt an sich zweifeln. Wenn er, was er nicht ausschließen kann, Noëlla selbst getötet hat, ist nicht nur er der Schuldige, sondern seine lebenslange Ermittlungsarbeit gegen den Richter Fulgence, die Rechtfertigung seiner Existenz als Polizist, erweist sich als Illusion. Adamsberg in der Krise: Der Fels bröckelt. Selbstzweifel nagt an ihm, zumal sich herausstellt, dass der Richter, sollte er überhaupt noch leben, hoch in den Achtzigern sein müsste und daher physisch kaum imstande, die Dreizackmorde zu begehen.

Doch im Augenblick der Verlassenheit scharen sich Kollegen wie der Rationalist Danglard und Violette Retancourt, „der kräftigste seiner Lieutenants“, mit ihrer Tonnenschwere schier unverrückbar um ihn, sogar der verschollen geglaubte Bruder trägt zu Rettung und Aufklärung bei. Fred Vargas hat einmal erklärt, sie schreibe Buch um Buch, um etwas Unerreichtes zu suchen – die reine Musik der Erzählung. In Der vierzehnte Stein, ihrem elften Roman, ist sie diesem Ziel näher gekommen als je zuvor. Wie in einem Planetensystem folgen ihre Figuren ihrer persönlichen Gravitation, Tänzern gleich, die nach jahrelangem Training ihren Körperschwerpunkt in eine Fußspitze legen können. Man geht durch dieses Buch wie durch einen Märchenwald, in dem es hinter jedem Strauch vor Witz und Charme flimmert, begegnet den grotesken Sonderlbarkeiten eines eigens erfundenen (und von Julia Schoch kongenial übersetzten) Québecquois, in dem Bullen „Coches“ sind und Kumpel „Schumms“ und Adamsberg ein „Wolkenschaufler“. Vor einem Jahr bekam Fred Vargas für Fliehe weit und schnell den Deutschen Krimipreis. Der neue Roman ist noch besser. Ihr ist es gelungen, Akkordeon und Sprache zu einem ganz eigenen, unerhörten Klang zu vereinen. Vargas schreibt die schönsten und spannendsten Krimis in Europa.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 16, 14.4.2005

Siehe auch: Tobias Gohlis über Das Orakel von Port-Nicolas

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der verbotene Ort

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Fred Vargas