Tobias Gohlis über Frank Göhre: Der Auserwählte




Hinter den Fassaden

„Ich wollte sie befreien“

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Frank Göhre:
Der Auserwählte

 

 

Auserwählt auf Gomera

Gewagt und gelungen: Frank Göhres Roman über „sexuelle Befreiung“ und Kindesmissbrauch

Sie heißen Sara und Bernd und Mike und Klaus und Bettina und sind schon lange keine Schulfreunde mehr. Sara und Bernd sind Miteigentümer einer Feriensiedlung auf Gomera, Bettina besitzt einen „weltweit tätigen Konsumgüterkonzern“ in Hamburg, Mike ist ihr Sicherheitsbeauftragter und Klaus so etwas wie ihr Mann. Sie sind alt gewordene Ausreißer. Nach der Rebellion oder der Befreiung oder was ihnen immer vorschwebte, als sie vor x Jahren den Trennstrich zu ihren Eltern zogen, führen sie heute wie diese ein Doppelleben. Klaus spielt, Mike bumst fremde Frauen, Sara und Bernd leugnen die Vergangenheit, Bettina leugnet dazu noch ihren Lover. Merkwürdig belanglos sind ihre Nachtfalter-Existenzen. Abgeschlafft drehen sie torkelnd ihre Kreise über Whisky- oder Rotweingläsern. Doch die alten Reflexe funktionieren noch. Als David, ein junger Boatpeople von Gomera, wo er Unterschlupf gefunden hat, abhauen muss, helfen die alten Kontakte beim reibungslosen Transfer nach Hamburg.. Und als Bettinas Sohn Eloi dort nach einer Party entführt wird, ist es für sie kein Problem, die fünf Millionen zu beschaffen, die die Entführer fordern.

Hinter den Fassaden
Eloi ist Der Auserwählte. Seine Entführung krakeliert für einen Moment Risse in die Oberfläche der Arrivierten. Das, was hinter den Fassaden geschieht, war und ist Frank Göhres Thema, ob in Kriminalromanen, Drehbüchern für TV und Film oder zuletzt in einer faszinierenden Romanbiographie Friedrich Glausers. Unpathetisch, mit niemals wackelndem Kamerablick, aber weit offen für Leid gleich welchen Ursprungs schreibt er seit den siebziger Jahren über Luden und Lehrlinge, Liebestolle, Verlorene und (Sex-) Süchtige, Mörder und Selbstzerstörer. Seine vier Romane über den Hamburger Kiez sind, Döblins Simultanismus, zeitgenössische Collage- und Cut-up-Techniken weiterführend, leuchtende Ausnahmen vom ästhetischen und moralischen Spießertum des deutschen Krimi-Mainstreams. In ihren Verbrechen die Zeit zu beschreiben ist Göhres nie völlig zu verwirklichende Utopie. Unübersichtlich, schnell mal hier mal da geschossen – das ist der erste Eindruck der filmisch angelegten Romanszenen: ein Mord in Gomera, ein Beischlafdiebstahl in Hamburg, eine Pokerrunde. Die abgeschlossene Geschichte gibt es nicht, kann es im Fall des Auserwählten nicht geben. Der Autor hat die Fetzen gesammelt und arrangiert. „Übereinstimmungen mit Personen und Vorkommnissen sind beabsichtigt, aber dennoch fiktiv“, lautet der Vorspann. Eloi ist ein Kind der „sexuellen Befreiung“ von 68, gezeugt als Spross einer „naturgemäß aufgewachsenen Dritten Generation“, wie es Oberkommunarde Pavel Schrotter diktiert hat.

„Ich wollte sie befreien“
Koinzidenz der Ereignisse: Im Juni 2010 entschuldigte sich der 85-jährige „Aktionsanalytiker“ Otto Mühl bei den Opfern, die er als Kinder und Jugendliche missbraucht hatte. „Ich wollte sie befreien und habe sie mit sexueller Überschreitung stattdessen überrumpelt und gekränkt" ließ er bei einer Ausstellungseröffnung in Wien verlesen. Fast zeitgleich erscheint Göhres Fiktion. Die Entführung Elois, des Hamburger Millionärssohns aus Gomera, zerreißt die biographischen Gespinste seiner Eltern und ihrer ehemaligen Freunde. Was sie, nun aufs neue bloß, mit sich machen werden, bleibt offen. Der Text endet kalt mit einem Resümee der „bisherigen Ermittlungen“.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung inDIE ZEIT Nr. 33 vom 11.8.2010

Siehe auch: Tobias Gohlis über „MO – Der Lebensroman des Friedrich Glauser“

Siehe auch: Tobias Gohlis spricht mir Frank Göhre über seinen Roman MO und Friedrich Glauser