Tobias Gohlis spricht mit Frank Göhre über seinen Roman MO und Friedrich Glauser



Erste Begegnung

Gauser beeinflusst Göhre

Exemplarisches Leben

Der innere Kompass

Scheitern im Erfolg

Glauser vergessen?

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Frank Göhre:

MO — Der Lebensroman des Friedrich Glauser

An einem heißen Sommertag

 

 

Unerträgliche Sehnsucht nach Geborgenheit

Der Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938) gilt als Vater der modernen deutschen Kriminalliteratur. Und der Hamburger Frank Göhre, selbst ein Kriminalschriftsteller von Rang, als sein Prophet. Das Syndikat, der Zusammenschluss der deutschsprachigen Krimiautoren, benennt seinen jährlich verliehenen Preis für den besten Kriminalroman nach Glauser. Und doch steht es nicht gut genug um Glauser. Nur wenige kennen das Werk dieses epochemachenden Schriftstellers, und auch sein kurzes, wild aufflackerndes Leben ist eher Schemen und Gerücht geblieben. Frank Göhre hat sein eigenes Schriftstellerleben lang immer wieder über den „Zeitgenossen Glauser“ geschrieben. Göhre hat ihm ein Sachbuch, Radiostücke und Essays gewidmet, er hat die erste preiswerte Taschenbuchausgabe der Romane um Wachtmeister Studer angestoßen und mit Nachworten versehen. Jetzt hat er mit MO sein persönlichstes Buch über Glauser vorgelegt, einen „Lebensroman“, der weit mehr ist als eine Ehrenbezeigung zum 70. Todestag am 8. Dezember 2008. Es ist das Porträt eines Bruders im Geiste, eines Kämpfers, der auch ein Verlorener war.

Erste Begegnung
Tobias Gohlis: Wie sind Sie auf Glauser gestoßen?
Frank Göhre: 1980 war ich Stadtschreiber in Soltau und wollte eine eigene Kriminalgeschichte entwickeln. In der Stadtbücherei stieß ich auf die vierbändige Werkausgabe eines unbekannten Autors, obwohl ich als Buchhändler Schriftsteller kennen sollte, die es zu einer Werkausgabe gebracht hatten. Ich fing also an, diesen Glauser zu lesen und war sofort fasziniert.
TG: Was genau hat Sie an Glauser gefesselt?
FG: Diese ländliche Atmosphäre des Berner Oberlands, die genaue Psychologie seiner Figuren und vor allem natürlich sein Stil. Er schrieb einfach verdammt gut. Ein Glauserzitat fasziniert mich immer noch: „Hock ab, Studer“. Das meint: Komm erst einmal zur Ruhe, hör zu, lass die Geschichten sich entwickeln, lass die Leute zu Wort kommen, ohne gleich zu werten. Ich war so fasziniert, dass ich beinahe einen eigenen Wachtmeister Studer geschaffen hätte, einen Ermittler auf dem Lande. Das habe ich aber dann doch gelassen.

Gauser beeinflusst Göhre
TG:
Aber Glauser hat Sie sehr beeinflusst?
FG: Oh ja, in meine ersten Erzählungen habe ich direkte Zitate übernommen und auch eine Figur, Kälin, die viel Ähnlichkeit mit Glauser hat: in die Fremdenlegion geflohen, aus dem Erziehungsheim abgehauen. Aber noch mehr hat mich, je länger ich mich mit ihm beschäftigt habe, sein Leben fasziniert. Dieses Leben als Umhergetriebener, seine große Sehnsucht nach Geborgenheit und letztlich die Unfähigkeit, die Geborgenheit aushalten können. Damals war ich noch nicht verheiratet und hab mich selbst immer gefragt, werde ich die Geborgenheit, die ich mir ersehne, aushalten können, wird sie mein Schreiben verändern … Glauser hat oft diese Bilder: Er blickt von außen durch ein Fenster, sieht eine Familie beim Abendbrot, wie sie Brot und Salat essen … Das hat mich dann noch mehr beschäftigt als sein Schreiben, diese Lebensfragen, die von etwas Ureigenem handelten.

Exemplarisches Leben
TG: Was ist am Leben dieses Mannes exemplarisch? Glauser war in 42 Lebensjahren gerade einmal zehn Monate mündig, stand fast sein ganzes Leben unter Vormundschaft, war drogenabhängig und kriminell, hat Jahre in Psychiatrien, in der Fremdenlegion, in Schlupfwinkeln verbracht, war im bürgerlichen Sinn nicht sozialisierbar.
FG: Er hat sein ganzes Leben lang sich zu retten versucht, krabbelt wie im Netz einer Spinne in seinen eigenen Verstrickungen und kommt da nicht raus … es war eben nicht nur dieser dominante böse Vater, der ihn bevormundete und ihm das Gefühl vermittelte, nie genügen zu können. Glauser hat sich darüber hinaus selbst immer wieder in Situationen getrieben, in die er nicht hineinmusste. Das hängt natürlich mit der Sucht zusammen. Da stellt sich immer die Frage, was fehlt, was mit der Sucht befriedigt werden soll …
TG: … die Sie im Roman aber nicht beantworten …
FG: … nein, ich erzähle, ich reihe Momente aneinander. Wie Glauser schaffe ich Lücken, die die Leser selber füllen können …
TG: Das macht den Reiz von MO aus …
FG: … es ist im Grunde ein Problem unserer Gesellschaft: Die Leute verspüren eine große Sehnsucht nach einem idyllischen Leben. Sie wissen im Grunde, dass es das nicht gibt, sie thematisieren das nicht, aber wenn, dann zerreißt es sie. Und dann kommen die Fragen: Du bist eh sterblich, was soll das, warum nicht gleich dem Leben ein Ende setzen, also alles das, was dem Glauser passiert ist.

Der innere Kompass
TG: Glausers kurzes Leben ist gut erforscht. Es war überreich an Stationen: DADA, Bergwerke, Gärtnerei, Fremdenlegion, Marokko, Paris, Mannheim, Entzug, Selbstmordversuche, Frauen, Morphium. Was hat Sie bei der Auswahl geleitet?
FG:
Eine Art innerer Kompass. Ich habe einen Roman geschrieben, keine Biografie. Das hat mir erlaubt, an den bekannten Tatsachen zu bleiben und doch hin und wieder etwas zu erfinden. Die fünf Monate etwa, in denen Glauser nach seiner Entmündigung 1918 von der Bildfläche verschwunden war, habe ich gefüllt, in dem ich ihn Erfahrungen sammeln ließ auf der Alp. Das waren im Kern meine Fragen: Wie entsteht eine Figur wie Wachtmeister Studer? Dann hat Glauser Erfolg mit ihr und scheitert.

Scheitern im Erfolg
TG: Erfolg? Scheitert? Seine vier Studer-Romane wurden bekannt, er bekam Preise, öffentliche Lesungen. Doch dann hat er sich übernommen. Er wollte den großen Gesellschaftsroman schreiben. Im Grunde der Traum jedes Krimiautors …
TG:
… der in dieser U und E trennenden Welt leben muss …
FG: … der in dieser Welt leben muss. Ich zitiere zum Schluss: „Mit Kriminalromanen fangen wir an … Das Wichtige erscheint später.“ Glauser hat von einem großen Dos-Passos-Roman über die Schweiz geträumt. Damit hat er auch angefangen, hat dann den Studer einfügt, weil er ohne den nicht zurechtkam und eine Kriminalgeschichte, mit der er, weil es keine richtige war, gescheitert ist.

Glauser vergessen?
TG: Sie haben 1986 mit einem Vortrag das Syndikat dazu bewegt, seinen Preis nach Glauser zu benennen. Hat sich das als gute Tradition erwiesen?
FG:
Das war schon richtig. Damals hatten nur einige wenige Kollegen überhaupt etwas von Glauser gehört. Dabei ist es leider geblieben. Heute denke ich, dass von den rund 400 Mitgliedern des Syndikats 380 Glausers Studer-Romane nicht kennen. Dem größten Teil der heute Schreibenden ist die Geschichte und Tradition des Kriminalromans nicht bewusst. Die schreiben Krimis, könnten aber auch Komödien schreiben oder weiß der Teufel was. Die Folgen dieser Unkenntnis ist die Entwicklung einer Spaß- und Eventkultur, nehmen Sie nur das Programm der Criminale. Plötzlich soll der Krimi etwas sehr Lustiges sein. Leider folgen nur noch wenige Kollegen, ein Dutzend vielleicht, ernsthaft der Tradition Glausers. Wenn mein Roman dazu anregt, wieder mehr Glauser zu lesen, bin ich zufrieden.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Welt vom 29.3.08

Siehe auch: Tobias Gohlis über „MO – Der Lebensroman des Friedrich Glauser“

Siehe auch: Tobias Gohlis über Frank Göhre: Der Auserwählte