Tobias Gohlis: Das Krimijahr 2004

 

Heinrich Steinfest: Nervöse Fische. Piper 2004

Doris Gercke: Schlaf, Kindchen, schlaf!
Ullstein 2004

Jens Lossau, Jens Schumacher : Die Menschenscheuche.
Societäts Verlag 2004

Pepetela: Jaime Bunda, Geheimagent. Unionsverlag 2004. Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita

Dominique Manotti: Hartes Pflaster. ASSOZIATION A 2004. Aus dem Französischen von Ana Rhukiz

Pentti Kirstilä: Tage ohne Ende; aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

 

 

 

Satt im Krimischlaraffenland

Zum Jahresende muss es einmal gesagt werden: Die deutschen Leser, jedenfalls die von Kriminalromanen, müssten die glücklichsten der Welt sein! Wenn Lesen dick macht, würden sie aussehen wie fette Haifische, mit Augen, die vor Sattheit und Glück glitzern. Sie wären gespannt auf extraordinäre Leichen, nervös wie jene Haie, die in Heinrich Steinfest s jüngster sophistication einem Graphologen im Dachswimmingpool eines Wiener Hochhauses das Leben abgenagt haben. Glücklich, weil ihnen im Krimischlaraffenland D alles geboten wird, was es an Feinem, Feinstem, Schmierigstem und Schwärzestem überhaupt gibt.

Hier ein paar deutsche Pralinen: Hochtief anspielungsreiche Grenzkunst bietet Steinfests wittgensteingeschwängerter (nicht von., mit Wittgenstein geschwängerter) Roman Nervöse Fische über ein sich selbst auflösendes Absurdrätsel, das natürlich, so Wittgenstein, keines sein kann. Bittere Politsatire plottet Doris Gercke in ihrem jüngsten Bella-Block-Roman (Ja, die alte Knurrerin gibt's noch: Nicht wie in der Kuschel-TV-Version im Beziehungskrisenhafen aufgedockt, sondern bissig, souverän hart am Untergrund navigierend, kurz vor der Bildung einer terroristischen Vereinigung, obdachlos, wütend wie je) gegen die Erste-Welt-Heuchelei: Ihr Schlaf, Kindchen, schlaf lässt den Leser schlaflos zurück. Höllische Yeti-Schauerromantik im Alpinstil malt das Duo Lossau/Schumacher - ihre Menschenscheuche um tiefgefrorene Leichenwürfel im Vorarlberg verwandelt fleischeslustig verfressen alle politisch korrekten Konversationsthemen - von Abendland (Untergang) bis Artenschutz ( Niedergang) in einen 256Millionen-Farb-Comic.

Überreich beschenkt sind deutsche Leser mit Kriminalliteratur aus allen Ecken der Welt. Nirgendwo wird mehr übersetzt als in Deutschland. So könnte nur hier und in portugiesisch sprechenden Ländern die angolanische James-Bond-Parodie Jaime Bunda, Geheimagent auf dem Gabentisch liegen: die mitreißend schwadronierte Story des faulen, fetten, krimibesessenen Neffen eines wichtigen Mannes, der in die heimischen Wespennester aus Korruption, Patronage und Selbstbereicherung stampft wie Herkules in die Ställe des Augias.

Verlegerischer Abenteuer- und Importierlust ist auch die Entdeckung zweier Autoren zu verdanken, die das literarische Spektrum des europäischen Kriminalromans in ihren Ländern schon vor einiger Zeit erweitert haben: Dominique Manotti und Pentti Kirstilä .

Mit Manottis Hartes Pflaster hat Assoziation A (ein dreifacher Tusch auch auf die anderen winzigen, radikalen Verlage: Distel, zebu, strange, Pulp Master !!!) in seiner jungen Noir-Reihe ein Bravourstück moderner politischer Literatur endlich, neun Jahre nach der Erstveröffentlichung, nach Deutschland gebracht. Dominique Manotti, die 1982 als Gewerkschaftsfunktionärin (Rümpft nur die Nase, blutarme Literatur-Literaten!) selbst am Kampf der türkischen Schneidereiarbeiter des Pariser Viertels Sentier um Aufenthaltsgenehmigungen beteiligt war, hat, Historikerin, die sie auch ist, mit dokumentarischer Genauigkeit diesen Sozialkonflikt in seiner Zeit recherchiert und aus der Geschichte pralles Leben gemacht, eine veritable Nachfolgerin Balzacs oder Eugène Sues. Sprache, Plot, Figuren - alles stimmt, atmet, liebt, kämpft: vom schwulen Kommissar, der die Abhängigkeit des wunderschönen Illegalensprechers weidlich liebevoll nutzt, über das Hinterzimmermilieu der illegalen Werkstätten, ohne die es kein Pariser Prêt-à-Porter gäbe, bis zum iranisch-türkisch-französisch-amerikanischen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Salut, Dominique!

Der Finne Pentti Kirstilä ist unter den nordischen Krimi-Autoren der Franzose. Wie Manchette signalisiert er dem Leser durch Selbstironie und -reflexion: Achtung, hier wird scharf mit Platzpatronen geschossen! "Hanhivaara betrachtete es nicht als unerhörten Schicksalsschlag, als er ausgerechnet an Mittsommer über eine Leiche stolperte." Hups, da sind mit einem Satz schon mal 40% aller polarkreisnahen Verbrechen auf der Schippe - kein Monat ist mörderischer als der Juni. Raffiniert ist Kirstilä auch. In seiner Kriminalstudie über die Angestelltenkultur im Export-Import-Milieu des Jahres 1978 (als der Roman erstmals erschien, nannte man es noch Kapitalismus) bereitet zunächst ein Ich-Erzähler einen Mord aus sexueller Frustration vor, ziert aber im Folgenden als Leiche die Walstatt der finnlandschwedischen Saufkultur. So einen Wechsel hätte Wallander gar nicht mitbekommen. Prosit, ihr Haie!

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 1 vom 30.12.2004