Tobias Gohlis über das Krimijahr 2008

 

Genre in Besinnungspause

Vilar: die große Entdeckung ist 15 Jahre alt

Ausgrabungen, Museen

Zum Mond, in die Quanten

Krimis sind politisch

 

 

Krise und Krimi

Ein Rückblick aufs Krimijahr 2008

Krise und Krimi - das stabreimt sich prächtig. Und passt: Während die Finanzhasardeure Schutzschirmchen in 500-Milliardentranchen bekommen, boomt der Krimi ganz aus eigener Kraft. Was ist schon die Gründung einer Bank gegen den Einbruch in eine Bank? Spannungsliteratur braucht keine Subventionen. Krimileser sind Masse: rund 60 Prozent aller Belletristikleser bevorzugen Krimis. In anderen Zahlen: Der Marktanteil der Spannungsliteratur am Gesamtumsatz der Belletristik betrug in den letzten beiden Jahren konstant rund 25 Prozent. Das sind - sehr grob geschätzt - 840 Millionen Euro, die 2008 für crime fiction über den Tisch gegangen sind. Masse ja - aber auch Macht? Wohl kaum. Ein Blick auf die Institutionen im Literaturbetrieb zeigt Klassenunterschiede. Das Hätschelkind Kunstliteratur wird mit mehr als 100 bundesweiten Preisen und zahllosen Stipendien gefüttert. Für Krimis gibt es gerade mal den Glauser in mehreren Kategorien (und etwas Geld) und den Deutschen Krimipreis (nur Ehre). Immerhin, es gibt ein wenig mehr kulturelles Interesse am Schmuddelkind. Hier eine Ringvorlesung, da ein paar literaturwissenschaftliche Arbeiten, das ist nicht mehr die pure Missachtung, wie sie Jochen Vogt, einem der wichtigsten Literaturwissenschaftler im Krimifeld, zu Beginn seiner Arbeit in den siebziger Jahren entgegenschlug. Im vergangenen Jahr wurde er emeritiert. Nachfolger? Irgendwie nicht in Sicht. Ein paar Blogger, das eine oder andere Winkelchen mit einer Krimikolumne im Feuilleton, seit 2006 ein Krimijahrbuch - und die KrimiWelt-Bestenliste, bald im fünften Jahr. Das ist so über den Daumen gepeilt die deutsche Krimiflora: schwächlich, aber zäh. Und wie steht es um den Suchtstoff selbst? Nicht wirklich gut. Unisono gingen der Deutsche Krimipreis und der 1. Platz der KrimiWelt-Bestenliste an den selben Titel, Richard Starks Fragen Sie den Papagei. Tolles Buch, cooler Autor. Doch leider verstorben, am Silvesterabend 2008. Ist das wirklich der herausragende Krimi des Jahres 2008? Der dreiundzwanzigste Roman einer Serie um einen Helden, der 1962 das Licht erblickte?

Genre in Besinnungspause
Die Wahl von Starks Parker-Roman ist Symptom. Das Genre befindet sich in einer Art Besinnungspause. Zwar entdecken die Verlage pro Saison mindestens ein neues Genie. Aber das entpuppt sich dann wie der überhypte Schwede Stieg Larsson als mittelmäßig begabter Kompilierer oder einfach als die übliche Dutzendware. Ansonsten wurde im vergangenen Jahr hauptsächlich wiederentdeckt, reanimiert, musealisiert. Richard Stark/Donald E.Westlake zum Beispiel: Nach einer ersten Welle zwischen 1968 und 1975 wurde er nicht mehr übersetzt, jetzt ist er wieder da. Und wird angepriesen, als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht ist das Genre: kurzes Gedächtnis, wenig Traditionsbewusstsein.

Vilar: die große Entdeckung ist 15 Jahre alt
Auch Jean-François Vilar, dessen Roman Die Verschwundenen die große Entdeckung des Jahres ist, war trotz einiger Titel in den Neunzigern fast schon vergessen. Auch dieser Roman ist alt, von 1993. Ausgegraben hat ihn der Miniverlag Assoziation A. Hier ist Geschichte nicht wie in der Masse der „historischen Kriminalromane“ Kulisse, vor der sich die üblichen Verdächtigen in zeitgenössischen Kostümen bewegen. Geschichte ist bei Vilar das zu Enträtselnde selbst, ein immer wieder neu durch Recherche und Erzählung zu entschlüsselndes Wirkungsgewirr. Eine ähnlich großartige Entdeckung war 2008 Rex Millers eklig bombastischer Serienkiller-Roman Fettsack. Auch er von einem Kleinstverlag ausgebuddelt. Diese kleinen - Edition Phantasia, die Reihe Funny Crimes bei Shayol, Pulp Master - pflegen bizarre, extravagante, abgründige Autoren. Das blutige Fleisch in der grauen Krimisuppe - bei ihnen ist es zu finden.

Ausgrabungen, Museen
Wichtig für das Verständnis der deutschen Kriminalliteratur ist die von Dieter Paul Rudolph herausgegebene „Criminalbibliothek 1850-1933“ (Edition Köln). In zehn Bänden werden (zu Unrecht?) vergessene Autoren vorgestellt, ein Licht auf den besonderen deutschen Krimiweg geworfen. Ein anderes Projekt aus dem gleichen Verlag trägt deutlich musealeren Charakter: die von Frank Göhre herausgegebene „Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands 1957-1993“. Von Göhre stammt auch die ebenso ergreifende wie subtile Romanbiographie Mo über den Schweizer „Vater der deutschen Kriminalliteratur“ Friedrich Glauser.

Zum Mond, in die Quanten
Und die zeitgenössischen deutschen Autoren? Drei Titel fallen besonders auf: Mariaschwarz von Heinrich Steinfest, dem Stuttgart-Österreichischen Bizarro des Genres; Linus Reichlins gelungene Verquickung von Quantenphysik, Abenteuer- und Kriminalroman Die Sehnsucht der Atome und ein Buch, das den Jurys der KrimiWelt-Bestenliste wie des Deutschen Krimipreises leider entgangen ist. Es heißt Nachtkrater und stammt von der ebenfalls in Stuttgart lebenden Christine Lehmann. Hinter der flotten und höchst spannenden Erzählung von Schwabenreporterin Lisa Nerz, die in eine Mondstation versetzt wird und dort den Tod eines Astronauten untersucht, hat Lehmann ein intelligentes Gedankenspiel über Zufall und Notwendigkeit, Demokratie und Herrschaft versteckt. Ein mitreißendes Buch und eine frotzelige Literatursatire - nicht nur zum Regionalkrimi, sondern auch zu Frank Schätzings umschwärmtem Schwarm, dem Lehmann allemal das Wasser reichen kann. Die Ausbeute ist mager, aber die Signale, die von ihr ausgehen, sind interessant. Bei Steinfest artistisch-artifizielle Überspielung des Genres, bei Lehmann und Reichlin intellektuell spielerisches Erzählen mit den Realien.

Krimis sind politisch
Besonders stark waren 2008 die politischen Stoffe. Mit Cruz Smith’ Stalins Geist und Rob Smith’ Kind 44 gab es gleich zwei Russlandromane in merkwürdiger Verschränkung. Erkennbar ist Rob von Cruz beeinflusst. Cruz Smith seziert mit seismographischer Eleganz die Wirkungsmacht des Stalinmythos. Rob Smith rennt gegen ihn an, als müsste der Diktator gestürzt werden. Zwei Generationen und Sichtweisen. Auch das Duo Jenny Siler/Robert Littell gibt auf Genese und Tiefenproblematik des Nahostkonflikts verzwickt Antwort. In gewisser Weise werden auf der Jahresbestenliste der KrimiWelt mit Ausnahme von Steinfest und dem großartigen Australier Peter Temple nur politische Romane empfohlen. Citizen Sidel, mitten in der Obamania auf Deutsch erschienen, ist nicht nur grandioser Endpunkt der genialen Sidel-Saga, sondern auch bittere Parodie der Wahlmanipulationen, mit denen ein Cop, Jude und Mörder Vizepräsident der USA wird. In der Krise beweist der Krimi unerwartet Härte. Last but not least sei noch auf eines der bedenkenswertesten Bücher der Krimisaison verwiesen. In Das Mörderische neben dem Leben hat Thomas Wörtche, Mitglied der KrimiWelt-Jury und Begründer der Metro-Reihe im Unionsverlag, Essays zur Kriminalliteratur veröffentlicht - state of the art.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE WELT 31.01.2009