Tobias Gohlis über Fred Vargas: Der verbotene Ort

 


Adamsberg ist nicht normal

17 Schuhe wollen nach Highgate

Mutmacher am ungewissen Ort

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Fred Vargas:
Der verbotene Ort

Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze

 

Das Erbe des Peter Plogojowitz

Der beste Roman von Fred Vargas: Adamsberg am verbotenen Ort

Bert Brecht wäre entzückt über den neuen Roman von Fred Vargas. In der „Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente“ erkannte der leidenschaftliche Krimileser das Merkmal „eines kultivierten Literaturzweigs.“ In ihrem elften Kriminalroman spielt die Französin so ganz nebenbei etliche kriminalliterarische Variationen durch. Die hohe Kunstfertigkeit, mit der Vargas in Der verbotene Ort Vampir-, Schauer- und Abenteuererzählung, Polizeiermittlung und –verschwörung mischt, red herrings jeder Couleur streuend, ist ein erster Hinweis darauf, dass wir es mit einem außergewöhnlichen Buch zu tun haben.

Adamsberg ist nicht normal
Die Kenner ihres Werks und ihres Helden Kommissar Adamsberg fasziniert sie mit neuen Herausforderungen, den Erstleser mit einer Figur, die ihresgleichen sucht. Der wie ein osmotisches Mineral in sich ruhende Mann hat einen Defekt: „Das fast vollständige Fehlen von Angst. Eine seltene Veranlagung“, diagnostiziert der charismatische Doktor Josselin. Genau das ist die Voraussetzung, die Adamsberg zu dem Kampf befähigt, den er zu bestehen hat. Drei überwältigenden Ängsten muss er widerstehen: der Angst vor Dämonen, der Angst davor, das eigene Kind (und Blut) sei verdorben, die Angst, lebendig begraben zu werden. An jeder könnte der Menschenberg zerbrechen.

17 Schuhe wollen nach Highgate
Wie alle rompols (so die Privatbezeichnung der Vargas für ihre Krimis) beginnt auch der verbotene Ort mit einem Rätselbild. Als verlangten sie Einlass, warten vor dem Tor des Londoner Friedhofs Highgate 16 Paar Schuhe, mit den dazugehörigen Füßen darin, sorgfältig am Knöchel abgesägt. In London nimmt alles (auch das detektivische Heldentum – abschweifend sei Arthur Conan Doyles 150. Geburtstag am 22. Mai gedacht) seinen Ausgang. Doch etliche Füße sind französischen Ursprungs. In Frankreich nimmt der Fall europäische Dimensionen an. Der Körper des misanthropischen Griesgrams Pierre Vaudel wird aufgefunden: zerquetscht und zermatscht, wie nach einer Explosion in seinem Zimmer verstreut. Was wie billiger Schock erscheint, ist Ergebnis eines rationalen Verfahrens. Die vollständige Zerstörung der Zähne und der Gehwerkzeuge ist nämlich das einzig wirksame Mittel, Vampire an ihrer Wiederkehr zu hindern. Das lernt Adamsberg auf dem Balkan.

Mutmacher am ungewissen Ort
Unverfroren Familienbande und Plot verknüpfend, sendet Vargas ihren Helden in das serbische Dorf Kiseljevo. Dort hat nicht nur der fiktive Onkel von Adamsbergs Mitstreiter Danglard seinen Ursprung, sondern auch der reale europäische Glaube an Vampire. Der verbotene Ort des Titels liegt dort, nur von wenigen tapferen Menschen betreten. Es ist die abseits gelegene Grabstelle des Bauern Peter Plogojowitz, der 1725 nicht gestorben, sondern der erste mörderische Untote der europäischen Rechtsgeschichte geworden ist. Was ist real, was fiktiv? Angst ist immer real. Fred Vargas’ Kriminalromane sind Mutmacher. Daher ihr märchenhaft-phantastischer Ton. In federnder, tanzender Sprache, dabei präzise choreographiert, erobern sie immer wieder den Ort des Ungewissen, besiegen die Angst, selbst wenn sie die Gestalt eines Vampirs angenommen hat. Das ist große europäische Literatur!

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung auf www.zeit.de DIE ZEIT Nr. ?? vom ?.?.2009

 

Siehe auch: Tobias Gohlis über Das Orakel von Port-Nicolas

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der vierzehnte Stein

Siehe auch: Tobias Gohlis über Die dritte Jungfrau

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Fred Vargas