Die Kinderschänder
kommen aus dem Innern der Gesellschaft
In der Gewalt gegen Kinder
zeigt sich die Angst
Übermächtige
Phobien
Der Deteketiv ist Teil
des Problems
Der Kriminalroman wird
philosophischer
2006 wird ein heißes
Jahr
|
|
Paßt auf eure Kinder auf!
Der Kinderschänder löst den Serienkiller ab –
ein Rückblick aufs Krimijahr 2005
Ganz in nächster Hamburger Nachbarschaft wird gerade
zwei Eltern der Prozeß gemacht, die ihre Tochter qualvoll verhungern
ließen. Ein anderes Paar muss sich rechtfertigen, weil es die zweijährige
Tochter an einer Mandelentzündung sterben ließ. Und ein kleiner
Junge wurde tot in einer Sporttasche aufgefunden, vermutlich, weil er
dem neuen Liebhaber der Mutter im Wege war.
Alltägliche Verbrechen. Plötzlich stellen sie sich quer im Kopf,
und es fällt es schwer, einen Jahresrückblick zur Kriminalliteratur
zu verfassen.
Die Kinderschänder kommen aus dem
Innern der Gesellschaft
Mindestens 700 neue Kriminalromane werden jährlich im deutschsprachigen
Raum veröffentlicht, etwa 400 stammen aus deutschen Federn, rund
300 werden übersetzt. Mindestens ein Fünftel des Umsatzes der
Belletristik wird mit Krimis erzielt, Tendenz steigend. Crime sells. Und
fesselt.
Insbesondere ist es das Spiel der Fiktion mit der Angst, die den Kriminalroman
aktuell macht. Dabei zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Der Feind,
das Böse, das Bedrohliche rücken nhäher.
Lange Zeit waren Serienkiller à la Hannibal the Cannibal
das Mainstreamthema der Kriminalliteratur. Serienkiller sind Verwandte
der Aliens, Godzillas und anderer Monster aus nicht-menschlichen Territorien,
die über uns kommen wie die sieben Plagen über die Ägypter.
Sie sind außermenschliche Menschen, die von irgendwo hinter dem
Horizont alltäglicher Lebensbewältigung herkommen, ihre Blutspur
durch die Vorgärten der Zivilisation ziehen, geschnappt werden und
wieder verschwinden. Schaudernd haben wir in den Abgrund geblickt und
treten erleichtert zurück: Serienmörder sind in Wirklichkeit
sehr selten.
Ungleich intimer, gewalttätiger, verstörender besetzen Kindermord,
Kindesmißbrauch, Kinderhandel und Kinderpornographie die kollektive
und individuelle Gefühlswelt. Kein Thema hat die Kriminalschriftseller
in letzter Zeit stärker beschäftigt. Hier kommt der Feind nicht
von außerhalb der Zivilisation, sondern aus dem Innern der Gesellschaft,
und stößt dorthin vor, wo wir am verletztlichsten sind, am
Herzen, in der Sorge um unsere Kinder. Der Täter kann Vater, Mutter,
Erzieher sein, im Umkreis geschändeter Kinder wächst blitzschnell
der Verdacht zur Verdächtigung aller. Im Umgang mit Kindsmord offenbart
sich der Gefühlszustand einer Gesellschaft.
In der Gewalt gegen Kinder zeigt sich
die Angst
In Reggie Nadelsons Russische Verwandte entwickelt ein alter, verbrauchter
Detektiv, besoffen, verzweifelt, eine fast schon globale Theorie: „Seiner
Meinung nach hing der Anstieg bei den Verbrechen an Kindern mit der Angst
zusammen, die überall herrschte; man konnte es sehen, die Leute gingen
zwar ihrem Alltag nach, aber in Gewaltausbrüchen gegenüber Kindern
zeigte sich die Angst.“ Der Fall spielt in New York nach dem 11.
September 2001. Kriegsangst, Trauer und Wut über die Ohnmacht der
Einzelnen angesichts der hereingebrochenen Katastrophe beherrschen die
traumatisierte Metropole.
Wenn die Kinder in Gefahr sind, werden friedliche Väter zu Furien
wie in Harlan Cobens Keine
zweite Chance. Ein Mädchen wird getötet in Friedrich
Anis letztem Tabor-Süden-Roman Süden
und der Mann im langen schwarzen Mantel, weil sie einen Pfarrer
beim Onanieren überrascht hat. In Robert Wilsons Romanen um den Sevillaner
Chefinspektor Javier Falcón hält ein Geheimbund verschworener
Kinderschänder die regionalen Machtstrukturen zusammen – wie
in der immer noch nicht restlos aufgeklärten Affäre um den realen
Marc Dutroux. Es sind Kindersoldaten, Kinderprostituierte, Kindersklaven,
die sich in Doris Gerckes Schlaf,
Kindchen Schlaf! auf einen Kreuzzug begeben, weil sogar die Menschen-
und Kinderrechtspolitiker sie verraten haben. Und Astrid Paprottas
Die Höhle der Löwin, einer der besten deutschen
Krimis des Jahres, endet mit der Beschwörung: „Paß auf
Deinen Jungen auf!“
Übermächtige Phobien
Panisch, erschreckt, irregulär zuckt der Puls der Zeit, den diese
Kriminalromane tasten. Es ist eine zeitdiagnostische, aber selbst zutiefst
verunsicherte Literatur. Der klassische Rätselkrimi einer Agatha
Christie, mit dem die Bücher ihrer avancierten Nachfolger aus Unkenntnis
immer noch verwechselt werden, wirkt dagegen wie ein albernes Pfänderspiel.
Selbst die Spannung generierende Frage „Wer wars?“ spielt
eine immer geringere Rolle.Wie in Fred Vargas’
großartigem Roman Der vierzehnte Stein sind es
die übermächtigen Phobien, die schreckerstarrte Einsamkeit des
an sich selbst zweifelnden Individuums, die im Gedächtnis bleiben,
nicht die brillante Auflösung, die bei einer Autorin von diesen Graden
selbstverständlich ist.
Der Deteketiv ist Teil des Problems
In fast jeder Hinsicht war deshalb David Peaces
1974, endlich auch ins Deutsche übersetzt, das Ereignis
des Jahres. Es ist die Geschichte eines aufstrebenden Reporters, der eine
Serie von Kindsmorden als Chance zur großen Karriere nutzen will,
doch zu böser Letzt zerstört am Boden liegt. Sein Aufklärungsfeldzug
wird von Gangstern und korrupten Lokalpolitikern manipuliert; zu schwach,
um Folter und Demütigung zu ertragen, sinkt er auf das Niveau der
Verbrecher, vergewaltigt die Mutter eines der Opfer und wird selbst zum
Totschläger.
Dieser Eddie Dunford ist der prototypische Detektiv unserer Zeit: Die
wahren zerstörerischen Kräfte bleiben unfaßbar, bestenfalls
einige Handlanger kann er identifizieren. Doch schon diese unzureichende,
Aufklärungsarbeit zerstört ihn selbst, degradiert den Helden
zum Allerweltsopfer, den vermeintlichen Moralisten, der die Dinge von
einer höheren Warte aus beurteilt, zur schlimmsten Art von Sünder,
dem abgefallenen Engel. Statt es zu lösen, erfährt der Detektiv,
dass er selbst Teil des Problems ist.
Der scheiternde, in seiner Menschlichkeit fast versagende Ermittler ist
der dem moralischen Desaster der modernen, nicht nur westlichen Gesellschaften
angemessene Held. Demissionen überall. Leonardo Paduras
Mario Conde kündigt den Dienst. Friedrich Anis Tabor Süden steht
irgendwo im Wald nackt auf einem Bein. Astrid Paprottas Ina Henkel begeht
Strafvereitelung im Amt. Ian Rankins Inspector Rebus steht jetzt schon
im Abseits und wird im übernächsten Roman abtreten – vielleicht
durch einen Sprung in den Firth of Forth, in enger Umklammerung mit Intimfeind
und Gangsterboß Big Ger Cafferty.
Der Kriminalroman wird philosophischer
Nicht immer ist die Demission endgültig. So hat Friedrich Ani nach
seinem Abschied vom Kriminalroman 2004 jetzt einen Wiederbeginn mit einem
neuen Protagonisten für das kommende Jahr angekündigt. Ein Gottsucher
in einer gottlosen Welt soll es werden, ein noch unbekannter Seelenverwandter
des Inspektors Gunnar Barbarotti, den der schwedische Autor Håkan
Nesser als Nachfolger seines ebenfalls demissionierten Kommissars Van
Veeteren angekündigt hat. Auch im tiefsten Dunkel ermitteln sie weiter
– der Kriminalroman wird philosophischer.
2006 wird ein heißes Jahr
2005 war ein Krimijahr wie selten eines. Die Aus- und Spätlesen,
von denen bisher die Rede war, erforschen die Albträume unserer Zeit.
Der Genre-Schematismus der frühen Jahre, der auch seinen Reiz hatte,
ist längst einer Vielfalt der Formen und Mixturen gewichen. Wer heute
noch glaubt, einen Krimi loben zu können, weil er "eigentlich
viel mehr sei" als ein Krimi, weiß nicht, wieviel der Kriminalroman
längst ist.
Seine Erzählstruktur lockt. So versuchen sich neuerdings auf den
Dunklen Seiten des Nymphenburgerverlags
etliche Romanciers und sogar ein Lyriker wie Uwe Kolbe am scheinbar Leichten
– um doch meist an den spezifischen Herausforderungen wie Figurenzeichnung,
Plotkonstruktion und Erzählstruktur auf ihre Grenzen zu stoßen.
Neben dieser Krimischreibbewegung vom vermeintlichen Literatur-Oben her
wächst dem Krimi auch von anderswo so manches Selbstgebastelte, aber
auch viel kraftvoll Neues zu. Neben dem nimmermüden Regionalkrimi,
der sich nach und nach in sämtliche Täler und Tiefen verzweigt,
wächst bei den Herren die Lust am Politthriller, jetzt hat sogar
Eifel-Jacques Berndorf einen passablen vorgelegt. Und bei den Damen verfolgen
Christine Lehmann und Elisabeth Herrmann jeweils ganz eigene Wege des
galligen Gesellschaftsromans; Leonie Swann ist mit ihrem Krimidebüt
Glennkill sogar höchst amüsant und geistreich
unter die Schafe gegangen.
Mit anderen Worten: Es gibt ein reiches Krimileben jenseits von Donna
Leon und Henning Mankell. Um dieses zu fördern, wählt seit April
diesen Jahres eine achtzehnköpfige Kritikerjury monatlich die zehn
besten Kriminalromane und veröffentlicht sie als KrimiWelt-Bestenliste.
Und nun kündigen gleich zwei Verlage – Der Stern und Die Süddeutsche
Zeitung – dem hungrigen Publikum neue preiswerte „Krimibibliotheken“
an. 2006 wird ein heißes Jahr.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT
Nr. 50 vom 8.12.2005
Weihnachts-Literaturbeilage
|