Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale




Sittengemälde der römischen Unterwelt

Die Maglianabande

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Giancarlo de Cataldo:
Romanzo Criminale

Aus dem Italienischen
von Karin Fleischanderl

 

 

Ein Kriminalroman

Oder wie eine römische Straßenbande beinahe die Macht in Italien übernahm

Romanzo Criminale – auf Deutsch: Kriminalroman heißt das Opus magnum des Richters Giancarlo de Cataldo. In Italien wurde das Epos über Aufstieg und Untergang einer römischen Gang zwei Mal verfilmt und erregte erhebliches Aufsehen. Doch was erzählt der knapp 600 eng bedruckte Seiten umfassende Klotz den deutschen Lesern?

In keinem europäischen Land – und vermutlich nur in wenigen anderen auf der Welt – ist das Yin Yang zwischen Staat und Verbrechen so ausbalanciert wie in Italien. Verbrechen und Staat sind nur als Prinzipien einander entgegengesetzt. Strukturell gleichen sie sich und gehen ineinander über. Nur gemeinsam setzen sie den Kreis in Bewegung, der sie einschließt. Ohne Staat kein Verbrechen – das ist ein Satz, der in Italien eine spezifische Ausprägung erhält. Dieser spezifischen Ausprägung geht seit jeher die Literatur über die Mafia nach. Auch der "Romanzo Criminale", an dem der Richter Giancarlo de Cataldo sechs Jahre lange gearbeitet hat. Irgendwann in den neunziger Jahren ist der Richter am Apellationsgericht auf Akten und auch auf einen Überlebenden der Magliana-Bande gestoßen, der als Kronzeuge im Gefängnis saß. Aus Akten, weiteren Dokumenten und Zeugenvernehmungen hat de Cataldo diesen Kriminalroman konstruiert. Entstanden ist ein Monstrum von beinahe 600 eng bedruckten Seiten (bei einem normalen Satzspiegel hätte es vermutlich 300 Seiten mehr), weit über 60 Figuren und etwa 12 Hauptfiguren. De Cataldo beschreibt den Aufstieg einer Gruppe jugendlicher Strauchdiebe.

Sittengemälde der römischen Unterwelt
Der Libanese ist der geniale Kopf, er verehrt Mussolini und die Ordnung. Seine Devise: "Die Macht steht demjenigen zu, der die besten Ideen hat und die Kraft, diese auch durchzusetzen." Trentadinari stammt aus gutem Hause, Dandi liebt es, sich mit Luxus zu umgeben, Freddo ist der zuverlässige Träumer, Patrizia die Hure mit dem genialen Sinn für Macht. Rom ist in den siebziger Jahren offene Stadt, der Mann, der lange Zeit Teile der Unterwelt kontrollierte, kann ausgebootet werden. Die Bande erobert Rom. Sie übernimmt den Drogenhandel und die Lotterien, bald kassiert sie überall ab, es gibt Reibereien, Mit dem wachsenden Reichtum wird das Geschäftsmodell der gemeinsamen Kasse in Frage gestellt, man bringt sich gegenseitig um. Man investiert das kriminelle Geld in legale Geschäfte, Anwälte, eingeschüchterte und gekaufte Zeugen, psychiatrische Gutachter sorgen dafür, dass die Bandenchefs frei herumlaufen oder in Anstalten komfortabel ihren Geschäften nachgehen können. De Cataldo breitet ein riesiges Sittengemälde der römischen Unterwelt der siebziger und achtziger Jahre aus, in dem der eifrige, aber letztlich erfolglose Polizist und der scheiternde Ermittlungsrichter ebenso wenig fehlen wie "Vecchio" der geheimnisvolle Drahtzieher aus den Hinterzimmern der Staatsmacht, der die Bande in die Aldo-Moro-Entführung und das Bombenattentat in Bologna verwickelt. De Cataldo erzählt in einem dem Neorealismus der Nachkriegsjahre ähnelnden Stil, die Dialoge folgen (Lob an die Übersetzerin Karin Fleischanderl!) dem Jargon der Vorstädte, die Figuren werden mit wenigen Strichen skizziert, ohne dass man sie je ganz verstehen könnte – alles das kennen wir: Es ist der Strom des Lebens, aufgenommen in Schwarz-Weiß, ruppig geschnitten, das übliche Hauen und Stechen.

Die Maglianabande
Die italienischen Leser, denen die Geschichte auch noch zwei Mal verfilmt wurde, werden sie als Schlüsselroman lesen. Auf der italienischen Wikipedia kann man sich durch etliche 50 Beiträge klicken, die die Fiktion, die der Autor entworfen hat, scheinbar wieder in Wirklichkeit auflösen lassen. Hier erfährt man, dass die Bande "Magliana-Bande" hieß und dass "Dandi" ein Enrico de Pedis war, der, obwohl Massenmörder, in einer römischen Kirche bestattet wurde, die dem Klerus vorbehalten ist. Bezeichnenderweise soll sie dem Opus Dei zugehören. Doch was nützt dieses Wissen?
Der "Romanzo Criminale" steht in der langen Tradition einer Literatur, die das Verbrechen und seine lokalen Organisationen (Mafia, Cosa Nostra, N'drangheta usw.) ethnographisch beschrieben hat. Die Zeichen, Riten und Verkehrsformen dieser Geheimbünde mussten entschlüsselt werden, um sie bekämpfen oder als Bestandteil der Gesellschaft beschreiben zu können. Bezeichnenderweise steht am Beginn der Mafia-Literatur der Bericht eines sizilianischen Barons ("Öffentliche Sicherheit in Sizilien" von 1864), der später als Nutznießer und sogar Anführer der kriminellen Sekte verdächtigt wurde, die er als erster beschrieben hat. Noch gab es den Namen Mafia nicht, aber schon damals war deutlich, dass es sich um das Komplementär zum Staatsapparat handelte, dass die Mafia bis heute ist. Kluge Mafia-Literatur wie die Leonardo Sciascias oder auch de Cataldos verweigert sich dem moralisierenden Gestus, der beispielsweise die Geschichten eines Roberto Saviano auszeichnet. Sie entmythologisiert das organisierte Verbrechen durch analytische Rekonstruktion seiner Verkehrsformen, in denen die Strukturen deutlich werden, die auf beiden Seiten der virtuellen Linie gelten, die Yin und Yang trennt.
Das Besondere an de Cataldos "Romanzo Criminale" ist also nicht die Enthüllung einer bisher unbekannten Welt des Verbrechens – die ist weithin bekannt - , sondern seine ethnographische Genauigkeit. Und die Tatsache, dass er im lokalen Zentrum der Macht spielt. Und siehe da: das ist leer. Denn die Gegenfigur zu alle den Freddos, Libaneses und Dandis ist eine romanhafte Gestalt "el Vecchio", die es "gar nicht gibt", wie der Autor ironisch im Personenverzeichnis angibt. Um die geht es aber immer. Und es ist ein Qualitätsmerkmal von Kriminalliteratur, wie scharf sie seine Gestalt im Hohlspiegel der Verbrecher erkennbar werden lässt.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung als Buchtipp der Woche am 19.7.2010 auf arte.tv



Siehe auch: Tobias Gohlis und Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom


Siehe auch: Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Schmutzige Hände

Siehe auch: Portrait Giancarlo de Cataldo: "Wir können den Guten nicht vollständig trauen
"