Tobias Gohlis und Giancarlo de Cataldo - Nachwort zu Der König von Rom




Ein Treffen

Auf dem Weg zum Romanzo

Romanzo Criminale

Schmutzige Hände

Zeit der Wut

Schlecht denken, böse Fragen stellen

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Giancarlo de Cataldo

Der König von Rom

 

 

Italien, erzählt in seinen Verbrechen

Von Tobias Gohlis und Giancarlo de Cataldo

Für die deutschen Leser, denen vierzig Jahre italienische Geschichte nicht unmittelbar präsent sind, haben der Autor Giancarlo de Cataldo und Tobias Gohlis gemeinsam ein Nachwort zum Roman Der König von Rom verfasst. Das Nachwort und die angehängte Zeittafel vergegenwärtigen den historischen Rahmen, die Gemengelage zwischen Staat, Politik und Verbrechen, die den Romanen de Cataldos zugrunde liegen. Der König von Rom erzählt die Geschichte vor der Geschichte: Wie Libanese, der Anführer der späteren Magliana-Bande, seine ersten tastenden Schritte auf dem Weg des großen Verbrechens tut und dabei in Versuchung gerät, sich mit einer Tochter der Bourgeoisie aus dem Staub zu machen. De Cataldo und Gohlis haben ihre - durch unterschiedliche Schrift kenntlichen Texte - zu einer gemeinsamen Collage zusammengefügt. Die Zeittafel wurde von Tobias Gohlis erstellt.

Ein Treffen
Im Herbst 2012 ist Giancarlo de Cataldo zufällig einem der Bosse der Maglianabande wieder begegnet. Und der alt gewordene Gangster hat sich beschwert: "Während ich im Gefängnis saß, haben Sie sich damit vergnügt, einen Roman über eine Bande zu schreiben, die es nie gegeben hat. Denn unsere Aktionen waren Einzelaktionen und rein ‚individueller' Natur."
Ein starkes Stück. Denn genau dieser Eindruck – dass es sich bei den Drogenverbrechen, Morden, Erpressungen, Grundstücksschwindeleien, Raubüberfällen der 1970er- und 1980er-Jahre um Taten Einzelner handelte – war der Schutzschild gewesen, hinter dem sich die Maglianabande hatte verbergen können. Nur wenige, im Apparat isolierte Polizisten hatten hinter den verschiedenen Verbrechen das Muster und die organisierenden Hirne erkannt. Diesen Beamten hat de Cataldo später in der Figur des Dr. Nicola Scialoja ein Denkmal gesetzt.
Doch bevor er Romanzo Criminale schreiben konnte, den Roman, der die Geschichte der Maglianabande und damit Roms und Italiens zwischen 1977 und 1992 erzählt, musste sich der Autor den Stoff erst einmal erschließen. Das war alles andere als ein Vergnügen. Er arbeitete damals als Richter am römischen Schwurgericht. Seine Chance kam, als ihn sein Chef ansprach.
"Mein lieber de Cataldo, das Verfahren gegen die Maglianabande muss eröffnet werden. Glauben Sie, Sie schaffen das?"
"Es war der 20. September 1995. Ich war 39. Ich willigte sofort ein. Vierzehn Tage später begann in der historischen Fechtschule von Luigi Moretti der Prozess gegen die mächtigste und berüchtigtste kriminelle Organisation Roms."
De Cataldo erinnert sich, dass sich seine Kollegen nicht darum rissen, dieses Verfahren zu übernehmen. Bandenkriminalität galt nicht als prestigeträchtig und somit nicht der Karriere förderlich. Zudem gab es Befürchtungen um die persönliche Sicherheit. Auch de Cataldo musste erst seine Frau, selbst eine erfolgreiche Anwältin, davon überzeugen, dass ihm und der Familie keine Gefahr drohte. Immerhin lagen die Attentate auf die Antimafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino erst drei Jahre zurück. Schließlich dauerte der Prozess kürzer als befürchtet und endete mit rund 500 Jahren Gefängnis für die 69 Angeklagten, 17 wurden freigesprochen.

Auf dem Weg zum Romanzo
"Ich entschied mich als Autor dafür, diesen Prozess zu übernehmen, nicht als Richter", betont Giancarlo de Cataldo. Denn hier hatte er den Stoff gefunden, nach dem er immer schon gesucht hatte. Er ist als Sohn eines Lehrerpaars 1956 in Taranto geboren, einer uralten Hafenstadt in Apulien. Da es dort keine Universität gibt, musste er nach dem Abitur 1974 nach Rom ziehen.
"Jeder Sohn aus dem Süden muss einen akademischen Abschluss machen. Ich wollte Filmregisseur werden, aber damals herrschte an der Filmakademie Aufnahmestopp. Also studierte ich Jura, wie alle, denen nichts Besseres einfällt", erinnert er sich. Mitte der 1970er-Jahre gab es nur den staatlichen Rundfunk in Italien. Der gescheiterte Filmregisseur beteiligte sich mit Leidenschaft an den ersten privaten Rundfunksendern und hatte bald seine tägliche Talksendung über kulturelle Themen. Während de Cataldo jeden Nachmittag über Kino, Bücher und Musik sprach, lieferten sich vor der Tür Linke und Rechte Straßenschlachten. Nicht nur die Roten Brigaden übten den bewaffneten Kampf, auch die Neofaschisten. Uniformiert waren beide: Die einen mit Jeans, Parka und langen Haaren, die anderen trugen Lederjacken, Stiefel und Glatze. Rom, die "offene Stadt" der Nachkriegszeit, war aufgeteilt in linke und rechte Bezirke. Wehe dem, der im falschen unterwegs war. Es war die Zeit, in der Kinder aus bürgerlichem Elternhaus links waren und im "Lumpenproletariat" die revolutionäre Kraft sahen. Die Beziehung zwischen Giada und Libanese in diesem Roman ruft die Sehnsüchte jener Tage in Erinnerung. De Cataldo dazu: "Damals wollten Verbrecher wie Libanese normale Bürger werden. Und die normalen Bürger liebäugelten damit, Verbrecher zu sein oder zumindest wie sie zu handeln."
Nach Studium und Militärdienst bewarb er sich 1981 für das begehrte Richteramt. Eine harte Prüfung: Von dreitausend Bewerbern wurden hundert genommen. De Cataldo bestand und entschied sich für einen Job, der unbeliebt war, der Arbeitsplatz jedoch in Rom und Umgebung lag, wo seine Frau arbeitete und wo die Kultur war. Fünf Jahre war er Richter am Tribunale di Sorveglianza ("Überwachungsgericht") von Latium. Diese Gerichte, zu denen es im deutschen Justizwesen keine genaue Parallele gibt, entscheiden in allen Fragen des Strafvollzugs, also über Hafterleichterungen, Strafmaßnahmen, Resozialisierungsmaßnahmen usw. Für de Cataldo war dies eine reiche Quelle der Erfahrung. Er lernte alle Sorten von Verbrechern und alle Varianten von Lügen, aber auch die Miseredes Strafvollzugs kennen. Über diese Jahre veröffentlichte er 1991 eine Mischung aus Essay und Tatsachenbericht, den er in Erinnerung an Adorno Minima Criminalia nannte.
Zuvor hatte er 1989 bereits den Kriminalroman Nero come il cuore ("Schwarz wie das Herz") veröffentlicht. Darin ging es um Organhandel und Einwanderer. Der traurige Held war ein Anwalt und der Stil american hardboiled. Weitere Krimis mit dem Ermittler Bruio, Erzählungen und Essays, Drehbücher für TV-Serien folgten. Sie umkreisten die Themen Nord und Süd, Justiz und Verbrechen. Und ab 1996 brütete er über dem Material für den Romanzo Criminale, studierte Aussagen und Akten, entwarf fünf Jahre lang Szenarien und Charakterskizzen. Im sechsten Jahr schrieb er den Roman fertig. Er erschien 2002.

Romanzo Criminale
In Romanzo Criminale erzählt de Cataldo fünfzehn Jahre italienischer Geschichte aus einem besonderen Blickwinkel: Es ist der einer Gruppe von römischen Vorstadtgangstern, die zur mächtigsten Bande Roms aufsteigen und nach fünf Jahren in alle Winde zerstreut oder ermordet sind oder im Gefängnis sitzen. Diese Maglianabande hat es einerseits wirklich gegeben, und der Richter Giancarlo de Cataldo hat das Seine dazu beigetragen, sie als Bande juristisch dingfest zu machen. Andererseits ist sie durch seinen Roman und die darauf basierenden Verfilmungen durch Michele Placido (2005) und Stefano Sollima (2008–2010) zu einem Mythos geworden, der tief in die Herzen nicht nur der Römer, sondern aller Italiener reicht. Romanzo Criminale erfüllt gleichzeitig die Funktionen eines römischen Heimatromans, einer grandiosen Räuberromanze und eines Politthrillers. Es gibt Webseiten, T-Shirts mit den Konterfeis der Banditen- Darsteller und Stadtführungen zu den Schauplätzen der Filme. Es gibt Filme, in denen behauptet wird, die Bande existiere immer noch und beherrsche Rom aus dem Untergrund. Kurz, der Maglianabande ist es ergangen wie jeder großen Verbrecherorganisation: Die Tatsachen werden von Mythos und Fiktion überwuchert. Oder anders: Die Fiktion hat ihre eigene Wirklichkeit geschaffen. Vor diesem Hintergrund klingt De Cataldos Darstellung wie eine Beschwörung:
Der "Boss" hat Recht: Romanzo Criminale ist wirklich ein Roman. Auch wenn er von einer wahren Geschichte ausgeht, ist Romanzo Criminale sicher nicht die "wahre Geschichte der Maglianabande" – und hat dies zu keinem Zeitpunkt sein wollen. Allen wiederkehrenden Polemiken über die Faszination des Bösen und allen damit einhergehenden Spekulationen zum Trotz, Romanzo Criminale ist keine Parteinahme für die Maglianabande, und wollte dies auch niemals sein. Wenn überhaupt will der Roman ein Bild von der zerstörerischen Macht der menschlichen Habgier zeichnen – und zwar ohne tröstlichen Ausgang. All denen, die sich Libanese zum Vorbild nehmen wollen, gebe ich den guten Rat, seine Geschichte bis zum bitteren Ende zu verfolgen.

Über die reale Maglianabande schreibt der Autor:

Bis in die frühen 1970er-Jahre war das Verbrechen in Rom eine Sache von Fäusten und Messern, von Wucherern und eleganten Dämchen. Es herrschte der gefürchtete Marseiller-Clan, unverfrorene, exzessive, leicht dekadente Gangster. Sie waren die unangefochtenen Monopolisten des Drogenmarktes: Damals – wie heute – war die Droge die absolute Königin der Szene-Lokale, wo die römische Jugend gemeinsam mit bekannten Gesichtern aus dem Show-Biz und verblassenden Sternchen der Halbwelt die letzten Züge einstiger "Dolce-Vita"-Herrlichkeit in durchzechten Nächten einsog.
1975/76: Eine Gruppe von jungen und ehrgeizigen Kleinkriminellen in Rom schickt sich an, eine Bande nach mafiösem Vorbild zu organisieren. Das war in Rom zuvor noch nicht geschehen – und es sollte nachher auch nie mehr passieren.

Um in das einzig relevante Verbrechen, das Drogengeschäft, einzusteigen, benötigten sie Startkapital. Von der verzweifelten Suche danach erzählt Der König von Rom.
In der rauen Wirklichkeit wurde das Geld durch Entführung und Mord beschafft. 1977 entführte der spätere Bandenchef Franco Giuseppucci (im Roman Libanese genannt) den Grafen Grazioli. Trotz Lösegeldzahlung durch die Familie wird er ermordet. Unterstützung findet das junge Banden-Unternehmen bei angesehenen Gangstern wie Raffaele Cutolo, der seit 1963 wegen Mordes im Gefängnis sitzt und von dort die von ihm gegründete Nuova Camorra leitet, und dem Lokalmatador Nicolino Selis (im Roman il Sardo). Einen anderen Lokalfürsten, Franco Nicolini (im Roman Terribile), bringen sie bald um. Dazu de Cataldo:

Im Laufe weniger Jahre, zwischen 1977 und 1983, macht die Bande reinen Tisch mit ihren Rivalen. Die zornigen jungen Löwen zwingen die regierenden Paten zu Pakten. Wer sich widersetzt, wird aus dem Weg geräumt. Das Territorium wird in Zonen eingeteilt. Die Gewinne aus den schmutzigen Geschäften werden gleichmäßig aufgeteilt – nach dem Prinzip einer für alle, und für die "Opfer der Justiz" werden Rücklagen gebildet. Keine kriminelle Aktion entgeht der Kontrolle der Bande. Das "core business" ist der Drogenhandel. Die Straßen von Rom sind von Heroin überflutet. Der Schuss nimmt den Platz des Joints ein. Eine Redensart gibt das Lebensgefühl jener Zeit treffend wieder: "In Magliana setzen sich selbst die Vögel einen Schuss" – was nichts anderes heißt, als dass die Droge von einem Spielzeug gelangweilter Reicher zur sozialen Geisel geworden ist. Die Bande hat die Art des Verbrechens von Grund auf verändert: Das Gangstertum hat dem organisierten Verbrechen Platz gemacht. Dynamik, Aggressivität, Modernität kennzeichnen die Wachstumszyklen nicht nur des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern auch der dunklen Seite unserer Zeit. Während die repressiven Staatsapparate konvulsiv mit dem Kampf gegen den Terrorismus beschäftigt sind, wird die Bande aufgrund der eisernen Kontrolle des Territoriums und ihres weitreichenden Feuerradius von zunehmendem Interesse für andere. Es werden Geschäftsbeziehungen zu Mafia, Camorra, chinesischen und südamerikanischen Drogenhändlern aufgebaut. Neofaschistische Terroristen oder Terroristenaspiranten nehmen Kontakt mit Bossen oder Unterbossen der Bande auf. Zutritt zu dieser Gemeinschaft zu bekommen, ist eine Ehre.
Die Bande macht gemeinsame Sache mit geheimen Bruderschaften und "fehlgeleiteten" Abteilungen der Geheimdienste. Es folgen Leistungen und Gegenleistungen, Gefälligkeiten und die später wieder rückgängig gemachte Bitte, das Verlies Aldo Moros zu suchen, und andere Dinge, die noch nicht gänzlich aufgeklärt wurden und wohl auch nie aufgeklärt werden.

Der 1916 geborene Aldo Moro war mehrfach Ministerpräsident gewesen und einer der angesehensten Politiker der Democrazia Cristiana (DC), deren Präsident er war. Moro wurde 1978 auf dem Weg zum Parlament von den Roten Brigaden entführt. Dort sollte an diesem Tag die Minderheitsregierung des DC-Politikers Giulio Andreotti durch ein Vertrauensvotum fast aller Parteien unterstützt werden. Auch die Kommunisten (PCI), damals zweitstärkste Partei, wollten Andreotti im Sinne des von Moro favorisierten "Historischen Kompromisses" unterstützen. Die PCI hatte sich unter Führung Enrico Berlinguers zuvor von Moskau losgesagt. Die genauen Umstände und Hintergründe der Entführung und Ermordung Moros, der nach 55 Tagen erschossen im Kofferraum eines Autos im Zentrum von Rom aufgefunden wurde, sind nicht restlos geklärt.
Der Historische Kompromiss der beiden ursprünglich im Antifaschismus der Nachkriegszeit verwurzelten Parteien bedrohte die "Logik der Konferenz von Jalta". So sah es der Journalist Carmine Pecorelli, der wegen der intensiven Recherchen zur Ermordung Moros 1979 selbst umgebracht wurde. (Dafür wurden 2002 Ex-Ministerpräsident Andreotti und der Mafiaboss Gaetano Badalamenti in erster Instanz verurteilt, in zweiter allerdings freigesprochen.) In Jalta hatten USA und UdSSR ihre jeweiligen Hegemonialsphären gegeneinander abgegrenzt. Der Wechsel Italiens, das als Frontstaat galt wie sonst nur die BRD, zu einer neutralen oder weniger antikommunistischen Regierung hätte aus der Sicht der Hardliner innerhalb der CIA und aller möglichen postfaschistischen Gruppierungen in Italien dieses Gleichgewicht der Kräfte gestört. Die Ermordung Moros durch die Roten Brigaden, die mit der Entführung vorgeblich nur ein paar ihrer politischen Gefangenen freibekommen wollten, wurde durch die Weigerung der Andreotti-Regierung, mit den Entführern zu verhandeln, provoziert, lag aber im Interesse aller, denen an der Aufrechterhaltung des Status quo gelegen war. Dazu gehörten neben den USA auch die UdSSR, beide nahmen über ihre Geheimdienste auf die unmittelbar Beteiligten, die Roten Brigaden auf der einen und verschiedene neofaschistische Kräfte auf der anderen Seite, Einfluss.
Zum Terror der Roten Brigaden gesellten sich ebenfalls in den 1970er-Jahren eine Reihe von Anschlägen neofaschistischer Gruppierungen wie des Ordine Nuovo und der Nuclei Armati Rivoluzionari (NAR). Hinter diesen standen die geheime Freimaurerloge Propaganda Due (P2) und die von der CIA geführte paramilitärische Guerilla-Organisation Gladio, deren Existenz (praktisch in allen westlichen Frontstaaten des Kalten Krieges) erst in den 1990er-Jahren aufgedeckt wurde.
Als Repräsentanten für diesen mehr oder minder undurchschaubaren, dennoch vorhandenen Komplex schattenstaatlicher Aktivitäten hat Giancarlo de Cataldo die Figur des Vecchio, des Alten, erfunden. Er charakterisiert ihn als unscheinbaren Mann im Hintergrund, der (ähnlich wie der Dekaden überstehende FBI-Chef J. E. Hoover) auf einem Berg von Akten sitzt, mit dem er jeden erpressen kann. Vecchio ist ein Mann ohne Ideologie, ein Anarchist, der die Geschehnisse ihren Lauf nehmen lässt. Dieser geheime "Brückenkopf des eingefleischten Antikommunismus" nutzt Linke wie Rechte, Homos und Heteros und eben auch die aufstiegssüchtigen Jungs von der Maglianabande. Und zeigt diesen Königen der Straße, wenn nötig, die wahre Macht. De Cataldo hat ihn aus einem Gedankenspiel geschaffen.
In den achtziger Jahren dachte der ehemalige Staatspräsident Sandro Pertini, der linke wie der rechte Terrorismus werde von einem geheimen Zentrum gesteuert, von den Sowjets, den Amerikanern oder beiden. Er nannte es symbolisch "Il Vecchio", und ich habe es personifiziert.

Zur Strategie der Spannung gehörte auch der Bombenanschlag auf den Bahnhof in Bologna, der 1980 85 Tote und 200 Verletzte forderte. Auch wenn die Zielsetzung der Maglianabande primär Bereicherung durch Verbrechen war, hatten die Mitglieder diverse Kontakte zum neofaschistischen Spektrum. Franco Giuseppucci (Libanese) schwärmte für den Duce und bewahrte eine Büste von ihm auf; Enrico De Pedis (Dandi) und Maurizio Abbatino (Freddo) hatten Freunde bei den NAR. Inwieweit sie tatsächlich am Anschlag von Bologna, an der Ermordung Mino Pecorellis oder bei der Suche nach dem Versteck Moros beteiligt waren, ist juristisch nicht aufgeklärt. Der Politthriller stellt diese Zusammenhänge her, aber näher als durch das "Wissen ohne zu beweisen" der Fiktion wird man nur selten der Wahrheit kommen. Der Thriller schafft seine eigene Wahrheit, und die lautet, dass die politischen und die "normalen" Verbrecher sehr gut miteinander kooperierten. Doch Letztere waren auf den schnellen Gewinn aus, die Macht, die sie ergreifen wollten, bestand in der Beherrschung des Drogenmarktes, nicht in der Macht über den Staat. Giancarlo de Cataldo:
Und dann, gerade als die Bande an die Spitze des kriminellen Italiens vorgestoßen ist, beginnt auch schon der abrupte, aber unaufhaltsame Fall. Es gibt ein Gesetz, das die Unterwelt regiert und das keine Ausnahme kennt. Kein Verbrecher, der nicht ein großer Verbrecher, ein Boss sein will. Und kein Boss, der nicht davon träumt, ein normaler, "sauberer Mensch" zu werden, in seinem eigenen Bett, im Kreise seiner Familie, seiner Kinder und Kindeskinder zu sterben, ohne Angst vor dem Gefängnis oder vor der tödlichen Kugel, die seiner unglückseligen Existenz ein Ende setzt. Es ist logisch: Um ein großer Verbrecher zu werden, musst du die Nummer eins der Straße werden, doch um "normal" zu werden, musst du der Straße wieder den Rücken kehren – und genau in diesem Moment kehrt dir die Straße den Rücken. Es wird jemand kommen, der noch unnachgiebiger, noch grausamer, gewalttätiger und hungriger sein wird als du. Und der wird deinen Platz einnehmen – auf die einzig mögliche Art und Weise: indem er dich wegfegt. So hat es mit der Maglianabande geendet.

Schmutzige Hände
Romanzo Criminale umfasst die Jahre 1977 bis 1992, der nachfolgende Politthriller Schmutzige Hände von 2007 den Zeitraum von 1992 bis 1994. Damit umspannt de Cataldo die zwei Jahrzehnte, in denen das politische System der Nachkriegszeit zusammenbrach, bzw. die Erste Republik. Am Ende von Schmutzige Hände stehen die Wahlrechtsreform von 1994, der Untergang der drei zuvor tragenden Parteien DC, PCI und PSI (Sozialistische Partei) sowie der Aufstieg neuer populistischer Gruppierungen und Silvio Berlusconis.
In Schmutzige Hände wechselt der Autor die Perspektive. Nicht mehr die lokalgeschichtlichen Aktivitäten einer römischen Verbrecherbande, sondern Machtverschiebungen innerhalb des Staatsapparats, repräsentiert im Kampf zweier Staatsdiener, Geheimnisträger und Agenten gegeneinander, bilden den Fokus des Geschehens. Stalin Rossetti und Nicola Scialoja kämpfen nicht nur um das böse Erbe Vecchios, sondern auch um Patrizia, die ehemalige Hure, die bereits in Romanzo Criminale im Zentrum der erotischen Obsessionen stand. Rossetti ist der bad cop, Scialoja nicht der gute, sondern nur der lesser bad cop. Rossetti war und ist sowohl für die geheimste Geheimorganisation Catena, als auch im Dienst der Mafia als Killer unterwegs. Scialoja ist Vecchios Erbe und an die Spitze der geheimen Operationen getreten. Als solcher unternimmt er den Versuch, mit der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia, zu einem Agreement zu kommen – ein Vorhaben, das er niemals eingestehen dürfte.
Um diesen Handlungskern herum, der auf ein schlichtes Wer-Gegen-Wen hinausläuft, trudeln die Großereignisse jener Jahre. Giancarlo De Cataldo:
1989 fällt die Berliner Mauer. Wenige Monate danach ändert die italienische kommunistische Partei (PCI) ihren Namen in PDS (Partito Democratico della Sinistra / Demokratische Partei der Linken) um.
Nachdem die Vorbehalte aus dem Kalten Krieg nichtig geworden sind, kann Italien durchaus eine Linksregierung haben. Darum müssen mit der Mafia keine Geschäfte mehr gemacht werden, um sie als antikommunistische Kraft einzusetzen.
Am 30. Januar 1992 verurteilt das Kassationsgericht Mafiabosse zu lebenslangen Haftstrafen. Die Bosse, die noch in Freiheit sind, beschließen, sich an den Politikern zu rächen, die sie nicht geschützt haben.
Im März 1992 teilt ein Gefängnisinsasse den Carabinieri Folgendes mit: Achtung, es wird Anschläge und Attentate geben. Die Mafia ist wütend, aber nicht nur sie allein wird agieren. Es gibt einen Plan, Italien zu destabilisieren und eine neue politische Kraft zu schaffen, die Italien in den nächsten Jahren regieren wird.
Wenige Tage darauf wird Salvo Lima, ein hoher Politiker der Christdemokraten ermordet. Lima war der Garant für das Gleichgewicht zwischen Staat und Mafia in Sizilien.
Erneut befragen die Carabinieri den Häftling und sammeln neue Aussagen. Informationen über diese Befragungen sickern durch und werden in den Medien veröffentlicht. Zwei Tage lang wird die Gefahr eines drohenden Staatsstreichs heraufbeschworen, bis sich jemand daran erinnert, dass der Häftling bereits wegen Verleumdung verurteilt worden war. Seine Aussagen werden als Ente abgetan.
In der Zwischenzeit: Am 23. Mai 1992 werden der Richter Giovanni Falcone und zwei Monate später der Richter Paolo Borsellino buchstäblich in die Luft gejagt. Im September wird Ignazio Salvo ermordet, ein mächtiger "Gabelliere", Freund der Mafia, jener Mann, der in Sizilien im Auftrag des Staates die Steuern einhob und dafür einen großen Anteil für sich behielt.
Gleichzeitig beginnen in Mailand die Erhebungen gegen die politische Korruption. Im Laufe zweier Jahre (1992–1994) werden die beiden wichtigsten Regierungsparteien, die Christdemokraten und die Sozialisten, durch die Untersuchungen der Richter von "mani pulite" ("saubere Hände") aufgerieben.
1993 legt die Mafia Bomben in Florenz, Mailand und Rom. Es ist der Versuch, den Staat zum Verhandeln zu zwingen. Der Staat weiß nicht, was er tun soll. Es gibt Kontakte (hierzu laufen heute noch Untersuchungen) zwischen Polizei, Carabinieri, geheimen Diensten und der Mafia.

Alle diese Ereignisse durchziehen Schmutzige Hände. Es ist, wie de Cataldo sagt, eine Hypothese. Aber, so meint er im Interview:
Verschwörungen hat es gegeben. Ich nenne sie Catena, die Figur des Vecchio hat diese Geheimorganisation gegründet.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde bekannt, dass es eine solche Organisation gegeben hat, sie wurde Anello – "der Ring" – oder auch Noto servizio – "der wohlbekannte Service" – genannt.
Ein Beispiel: 1996 stieß die Polizei auf der Suche nach Dokumenten über das Bombenattentat in Brescia von 1975 auf ein Gebäude in Rom. In dessen Keller fand man mehr als eine Million Dokumente über Geheimdienstaktivitäten. Ein Spezialist identifizierte die Dokumente, die irgendjemand dort hinterlegt hatte, als Dokumente des Noto servizio. Sie wurden analysiert, für geheim erklärt und, obwohl zu befürchten war, dass sie Auskunft über Verbrechen gaben, die unter dem Geheimdienstsiegel begangen wurden, nicht komplett vernichtet, sondern nur ein Teil davon. Der Grund war, so sehe ich es, man wollte diese Akten für Situationen bewahren, in denen sie nützlich sein könnten. Das war das Italien jener Zeit.

Zeit der Wut
Den Roman Zeit der Wut hat de Cataldo gemeinsam mit dem in Italien sehr bekannten Drehbuchautor Mimmo Rafele (u. a. Allein gegen die Mafia) zunächst als Drehbuch konzipiert. Die beiden kennen sich von der Arbeit an der TV-Serie Borsellino über den gleichnamigen Antimafia- Richter. Der deutsche Titel Zeit der Wut bezieht sich auf den jungen Helden des Romans, den Polizisten Marco Ferri. Er ist geladen mit einer Art genetischer Wut, die ihn nur zu leicht aus dem Lager des rechtsstaatlich agierenden Polizisten Nicola Lupo in das des Quasi-Söldners Aldo Mastino überlaufen lässt, der in Wirklichkeit Befehlsempfänger des dämonischen Kommandanten ist.
Der italienische Titel des Romans La forma della paura ("Die Gestalt der Angst") kennzeichnet deutlicher als der deutsche das zentrale Thema. An die Stelle der "Strategie der Spannung" aus der Zeit des Kalten Krieges ist nach den Anschlägen des 11. September 2001 das Herrschaftsinstrument der Furcht getreten. De Cataldo:
Seitdem herrscht eine diffuse Stimmung, wir müssten uns verteidigen, der Westen befinde sich in einer Wagenburg: Wir treten in die Epoche der Selbstverteidigung ein. Unser gemeinsamer großer Feind seien die Araber. Und ein Haufen Geld wurde für Sicherheit ausgegeben. In Italien hat sich diese allgemeine Bedrohungsangst verknüpft mit der Frucht vor Einwanderern, nicht nur aus Nordafrika, sondern vor allem auch aus Osteuropa.

Die Dualität böser Cop – weniger böser Cop, die er bereits in Schmutzige Hände erprobt hat, ist gewissermaßen ummantelt durch die zentrale böse Figur des Kommandanten einerseits und die Intrige des vorgetäuschten islamistischen Attentats andererseits. Die beiden Cop-Figuren agieren die moralischen, politischen und Rivalitäts-Konflikte zweier Staatsdiener mit unterschiedlichen Temperamenten und Idealen aus und bieten Identifikationsfläche für den Diskurs über wehrhafte versus offene Demokratie. Dieser findet jedoch nicht im luftleeren bzw. genre-gegebenen fiktiven Raum statt. Denn sowohl dem Kommandanten als Typ ist der Autor in der Realität begegnet als auch den illegal operierenden Polizisten, die friedliche muslimische Einwanderer zu Anschlägen aufhetzen. Letzteren ist er im Saal des Appellationsgerichtshofes begegnet, an dem er tätig ist. Giancarlo de Cataldo:
Wir hatten den Fall zweier arabischer Fischer. Sie waren angeklagt, einen Sprengstoffanschlag gegen den Soldatenfriedhof von Nettuno nahe Rom geplant zu haben. Wir ließen sie frei, weil wir den Beweis hatten, dass jemand anderes den Sprengstoff hinterlegt hatte.
Ein Geheimdienstler hatte diesen legalen arabischen Einwanderern gedroht, er werde sie den Israelis oder der CIA ausliefern, wenn sie nicht kollaborierten. Er wollte sie als Agenten in islamischen Kreisen einsetzen (wie den Ägypter Salah im Roman). Diese sehr armen und kaum des Lesensund Schreibens kundigen Fischer hatten einen italienischen Freund, der zum Islam übergetreten war und dem sie deshalb vertrauten. Dieser Freund, ein Steinmetz, folgte dem Geheimagenten beim nächsten Treffen und identifizierte ihn, so dass wir ihn vor Gericht laden und befragen konnten.
In einem andern Fall wurden 14 oder 15 Nordafrikaner angeklagt, sie wollten angeblich das römische Wasser vergiften. Ihre Telefone waren überwacht worden. Man hatte den arabischen Gruß "scha nur", was so viel bedeutet wie "Das Licht sei mit dir", mit dem italienischen Wort für Zyankali – "cianuro" – verwechselt.

Das Vorbild für den Kommandanten, der einen Anschlag vortäuscht, um einen Konflikt zu verschärfen, war der amerikanische Spindoktor, Geheimdienstmann und spätere Krimischriftsteller Steve Pieczenik. Er hatte den italienischen Staat als Spezialist für psychologische Kriegsführung zur Zeit der Moro-Entführung beraten. Um zu verhindern, dass Moro freigelassen wurde, ließ er ein Schreiben der Roten Brigaden fälschen, das die Ermittler just zu dem Zeitpunkt, wo man Moro hätte finden können, von Rom weg an einen See in den Albaner Bergen lockte.

Schlecht denken, böse Fragen stellen
Giancarlo de Cataldo und Mimmo Rafele haben Zeit der Wut als Appell verstanden, sich gegen die Einschränkung demokratischer Freiheiten zu wehren, die unter dem Vorwand, sie zu schützen, vollzogen wird.
De Cataldo sieht sich als Richter wie als Schriftsteller in einer Front demokratischer Abwehr.
Als Richter ist er stolz auf die Unabhängigkeit (übrigens auch im Unterschied zu den deutschen Staatsanwaltschaften, die den Justizministern unterstehen), mit der die italienischen Gerichte und Ermittlungsbehörden den Filz zwischen organisiertem Verbrechen und Geheimdiensten untersuchen können und untersucht haben. "Wir wissen so viel, weil wir so gute Richter haben! Und wir haben ein viel distanzierteres Verhältnis als ihr Deutschen zum Staatsapparat." Und tatsächlich wäre die Befragung eines Geheimdienstbeamten, wie im Fall der arabischen Fischer, in Deutschland wohl am Aussagevorbehalt der übergeordneten Behörde gescheitert. In Italien hingegen muss ein Geheimdienstler als Zeuge auftreten, mit allen Konsequenzen im Fall einer Falschaussage.
Als Kriminalschriftsteller, der mit Der König von Rom jetzt eine Tetralogie der jüngsten italienischen Geschichte in ihren Verbrechen vorgelegt hat, sieht sich Giancarlo de Cataldo zunächst einmal in einer Linie mit seinen italienischen Kollegen. Er selbst hat sie als Herausgeber von Anthologien und TV-Serien immer wieder zusammengeholt, um jeder auf seine Weise vom Verbrechen, das heißt von Ungleichheit, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Gewalt, zu erzählen. "Das große Verbrechen unserer Zeit ist das Verbrechen gegen die Demokratie", fasst er zusammen, "in dieser Zeit der Konfusion können wir auch den Guten nicht vollständig trauen." Skepsis zu wecken, lebenswichtiges demokratisches Misstrauen, das ist sein erklärtes Ziel. Oder, um es mit den Worten seines Freundes Carlo Lucarelli zu sagen, sie üben sich in der Kunst, "schlecht zu denken".
Und deshalb sieht de Cataldo sich in einer größeren Gemeinschaft als nur der italienischen Autoren. Es ist die Internationale der demokratischen Kriminalschriftsteller. "Nehmen Sie meine Bücher oder die von Stieg Larsson, von Dominique Manotti oder Ian Rankin, dann sehen Sie: Wir schreiben alle ganz verschieden, aber über das eine zentrale Thema, unsere schwache, anfällige, fragile Demokratie und wer sie gefährdet."

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Nachwort zu dem Roman Der König von Rom


Siehe auch: Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale

Siehe auch: Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Schmutzige Hände


Siehe auch: Portrait Giancarlo de Cataldo: "Wir können den Guten nicht vollständig trauen"