Tobias Gohlis portraitiert Giancarlo de Cataldo und die Romanzo Criminale




Richter und Autor

Marx hat Kopfschmerzen

Minima Criminalia

Die Magliana-Bande und die Macht

Il Vecchio

Schmutzige Hände und Mani pulite

Strategie der Angst

Demokratischer Realismus

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Die Romane Giancarlo de Cataldos sind auf Deutsch im Folio Verlag, Wien, erschienen und wurden von Karin Fleischanderl übersetzt.

Bibliografie:
Romanzo Criminale 2010 Schmutzige Hände 2011 Zeit der Wut 2012

Außerdem gab Giancarlo de Cataldo 2006 die Anthologie "Ich weiß um deine dunkle Seite" mit aktueller italienischer Kriminalliteratur heraus (2005 als "Crimini" auf Italienisch erschienen).

 

 

Wir können den Guten nicht vollständig trauen

Giancarlo de Cataldo ist Richter in Rom und schreibt die Geschichte Italiens in Kriminalromanen

"Könnten die Römer allein über den Literaturnobelpreis entscheiden, würden sie mich wählen", sagt Giancarlo de Cataldo mit breitem Grinsen. Ein einziges kolossales 600-Seiten-Buch hat den Richter mit der kräftigen Statur und der dicken Brille berühmt gemacht. Es erschien 2002 unter dem schlichten Titel Romanzo Criminale - "Kriminalroman" - und erzählt, wie es einer Straßengang gelang, in den späten siebziger Jahren die Macht in Rom zu ergreifen. Na, nicht die ganze Macht, da gab es immer noch den Papst. Aber die auf den Straßen, und als sie die erobert hatten, kontrollierten sie den gesamten Heroinhandel und fast alle anderen Drogengeschäfte, das Glücksspiel, die Bordelle, das Schwarzgeld. De Cataldo kühl: "Die Magliana-Bande, das waren kriminelle Genies. Sie brachen mit der zentralistischen Mafia- und Camorra-Tradition und bauten sich ein horizontales Netzwerk. Die Mitglieder entschieden gemeinsam, anfangs jedenfalls, und operierten getrennt. Sie besaßen ökonomischen Verstand. Sie entführten einen Grafen, um das Lösegeld als Startkapital in den Ankauf von Drogen zu investieren und verzichteten zunächst auf dicke Autos und goldene Rolexuhren."
Michele Placido verfilmte den Roman, doch richtig populär wurde die Magliana-Bande durch eine Fernsehserie. Jugendliche tragen T-Shirts mit den Konterfeis von de Cataldos Figuren "Dandi", "Freddo" und "El Libano", der Begriff "Romanzo Criminale" ist sprichwörtlich geworden.

Richter und Autor
Dass die Identitäten der realen Gangmitglieder und ihre Verbrechen überhaupt gerichtsnotorisch wurden, ist nicht zuletzt das Verdienst des Richters Giancarlo de Cataldo. Er hat ihnen den Prozess gemacht, bevor er sie im Roman verewigte. Denn zunächst, in ihrer besten Zeit zwischen 1977 und 1982, wurden sie von Polizei und Justiz als Bande gar nicht wahrgenommen. Morde, Drogendelikte und andere Verbrechen wurden als Einzeltaten, nicht als Bestandteil organisierten Verbrechens verfolgt. Es dauerte bis 1996, die Anklagepunkte für den einzigen großen Prozess zusammenzustellen, der jemals der Magliana-Bande gemacht wurde. Außer Giancarlo de Cataldo war kein Richter daran interessiert, das Verfahren anzufassen. "Das war eine großartige Chance für mich - als Autor." De Cataldo vernahm Kronzeugen, studierte Ermittlungsprotokolle, verhandelte und verurteilte. Und erschloss sich damit das Quellenmaterial, das er in sechsjähriger Arbeit zu Romanzo Criminale umformte.


Giancarlo de Cataldo in Richterrobe (Foto © Tobias Gohlis)

Marx hat Kopfschmerzen
Der Mann, der den letzten Magliana-Boss Maurizio Abbatino als Kronzeugen vernahm, bevor er ihn als Romanfigur "Freddo" zum T-Shirt-Motiv machte, bewohnt mit Mutter, Ehefrau und Sohn, der gerade Abi gemacht hat, eine weitläufige Altbauetage im römischen Viertel Prati. Der Vatikan und der alte Justizpalast liegen jeweils zehn Minuten zu Fuß entfernt. Giancarlo de Cataldo sitzt auf einem Sofa, gegenüber steht die Skulptur eines polnischen Künstlers. Sie zeigt den Kopf von Karl Marx, gespalten von einem goldenen Sowjetstern. "Marx hat Kopfschmerzen", amüsiert sich Giancarlo. Jetzt ist er ein renommierter linker Intellektueller. Als er mit Achtzehn 1974 aus seiner süditalienischen Heimatstadt Taranto nach Rom kam, fühlte er sich fremd und ausgestoßen, wie Scialoja, der einsame Ermittler in seinen Romanen. Aber die Geschichte der Magliana-Bande, die sich drei Jahre später zusammentat, war nicht seine Geschichte. Er musste nicht aufsteigen in ein bürgerliches Leben. "Ich kam aus einer Mittelschichtfamilie und wollte Regisseur werden. Wegen der Krise - sie war fast so schlimm wie heute – gab es eine Aufnahmesperre an der Filmhochschule. Jeder Sohn aus dem Süden muss einen akademischen Abschluss machen. Also studierte ich Jura. Aber lieber war mir die Talkshow, die ich bei einem der ersten Freien Rundfunksender Italiens hatte. Das war eine tolle Zeit. Wir machten Kultur gegen Unwissenheit und Armut." Während Giancarlo jeden Nachmittag über Kino, Bücher und Musik sprach, lieferten sich Linke und Rechte vor der Tür Straßenschlachten. Nicht nur die Roten Brigaden übten den bewaffneten Kampf, auch die Neofaschisten, die Frontlinien des kalten Krieges verliefen zwischen den rechten und linken Quartieren der Hauptstadt.

Minima Criminalia
Das Richterhandwerk lernte de Cataldo auf die harte Tour. Auf seiner ersten Dienststelle bearbeitete er Bewährungsverfahren. Fünf Jahre lang bereiste er die Gefängnisse Latiums und lernte nicht nur das Elend der Knäste kennen, sondern auch alle Arten von Kriminellen, vom Terroristen bis zum Drogendealer. Seine Frau etablierte sich derweil als Anwältin im Zivilrecht, so würde sie nie ihrem Mann vor Gericht gegenüberstehen müssen. Über die Jahre als Bewährungsrichter schrieb Giancarlo de Cataldo eine Mischung aus Essay und Tatsachenbericht, den er, Adorno im Hinterkopf, "Minima Criminalia" nannte. Sein erster Roman dann war american hardboiled fiction auf Italienisch, darin ging es um Organhandel und Einwanderer mit einem Anwalt als traurigen Helden. De Cataldo schrieb Essays über Süditalien und Scripts für TV-Serien, aber erst dreizehn Jahre nach seinem ersten Roman, 2002, gelang ihm mit Romanzo Criminale der Durchbruch. Geschichte als Geschichte des Verbrechens zu erzählen, das war das darin erstmals realisierte Konzept. In Romanzo Criminale rief er nicht nur den Römern einen vergessenen Teil ihrer lokalen Historie in Erinnerung. Er schuf den ersten Roman, der die "bleierne Zeit" der terroristischen Attentate von rechts und links, und des inneren Kalten Krieges mit realistischen Mitteln darstellte.


Giancarlo de Cataldo in seinem Büro im Corte d'Assise d'Appello in Rom (Foto © Tobias Gohlis 2012)

Die Magliana-Bande und die Macht
Aus den Prozessakten rekonstruierte de Cataldo Aufstieg und Fall der Magliana-Bande, Traum und Realität des Aufstiegs von kleinen Straßenräubern zu Bourgeois, die sich den erstrebten Anschein von Wohlstand und Seriosität gaben, mit Politikern und Unternehmern auf Du standen. Der steinreich gestorbene "Dandi" Enrico de Pedis wurde sogar in einer Basilika beerdigt, die dem Vatikan gehört. Je mächtiger die Bande wurde, desto interessanter wurde sie für die geheimen Dienste. Um die Verwicklungen zwischen Politik, den Freimaurern und Geheimbünden wie der Loge Propaganda Due ranken sich Gerüchte und Geschichten, die Fakten sind naturgemäß dürftig. Jedenfalls soll die Magliana-Bande 1978 geholfen haben, das Versteck des von den Roten Brigaden entführten Premierministers Aldo Moro zu finden, war aber wohl auch in den Anschlag von Ultrarechten auf den Bahnhof von Bologna verwickelt, bei dem 1980 85 Menschen starben. Als Verehrer Pasolinis zitiert Giancarlo de Cataldo gerne den Spruch: "Ich weiß, aber ich kann nicht beweisen." Sein Wissen um das nicht vor Gericht beweisbare Zusammenspiel zwischen Gangstern, Geheimdiensten und rechten Politikern ist in den Romanzo Criminale eingewoben.

Il Vecchio
Aus dem Gangsterroman schält sich der Politthriller. De Cataldo hat ihm eine quasi dokumentarische Gestalt gegeben. Nachvollziehbare Tatsachen mischt er, authentisch bis in den auch in der deutschen Übersetzung noch spürbaren Slang der Vorstädte, mit begründbaren Vermutungen. Spionage- und Politthriller sind Explorationen über die Gestalt der verborgenen Macht. Diese wirkt, ohne juristisch identifizierbar und damit öffentlich kontrollierbar zu sein. Im Romanzo ist sie personifiziert in Vecchio, dem Alten. Es ist eine Dämmerexistenz von betonter Unauffälligkeit, ein Drahtzieher und anarchistischer Marionettenspieler, dessen "effektive Macht obskur und uneingeschränkt" ist. Dieser geheime "Brückenkopf des eingefleischten Antikommunismus" nutzt Linke wie Rechte, Homos und Heteros und eben auch die aufstiegssüchtigen Jungs von der Magliana-Bande. Der belesene De Cataldo hat ihn aus einem Gedankenspiel des ehemaligen Staatspräsidenten Sandro Pertini übernommen. "In den achtziger Jahren nahm er an, der linke wie der rechte Terrorismus werde von einem geheimen Zentrum gesteuert, von den Sowjets, den Amerikanern oder beiden. Pertini nannte diese Zentrale symbolisch Il Vecchio."
Romanzo Criminale ist ein Schatz an bizarren Geschichten, Figuren, Verschwörungen und Alltagsszenen. Seine Haltung ist realistisch, aber auch ethnographisch und romantisch wie Eugene Sues Die Geheimnisse von Paris. De Cataldo zielt nicht auf Nacherzählung des alten Vergangenen, sondern sammelt Stoff und Fleisch für ein größeres Projekt. "Der Kriminalroman ist die realistische Literatur unserer Zeit", postuliert er.

Schmutzige Hände und Mani pulite
Deutlicher noch als im Romanzo tritt dieser demokratische Realismus in de Cataldos zweitem großen Roman Schmutzige Hände von 2007 zutage. Der Titel verweist auf den großen Korruptionsskandal "Mani pulite" ("Saubere Hände") Anfang der neunziger Jahre, an dessen Ende der Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems und der Aufstieg Berlusconis standen. Im Zentrum der Romanhandlung stehen die Bomben- und Mordanschläge, mit denen die sizilianische Cosa Nostra sich gegen die Antimafiagesetze und gegen ihren Bedeutungsverlust nach dem Fall der Berliner Mauer wehrte. Der Staat reagiert mit Härte – und mit geheimen Verhandlungen, in denen der Mafia Kompensation geboten wird. Helden, wie sie in gewisser Weise noch von der Magliana-Bande verkörpert wurden, gibt es nicht. Scialoja, der einsame Ermittler, ist in die höchsten Ränge der Polizei aufgestiegen. Er ist Erbe der geheimen Akten Vecchios geworden, mit denen dieser, ein italienischer Edgar Hoover, die herrschende Elite manipulierte. Die Karten werden neu gemischt, aber die italienische Gesellschaft bleibt die alte. Als Scialoja zum Schluss demissioniert, findet sich für die Kontrolle über die geheimen Akten ein Nachfolger – noch unsichtbarer, noch grauer als Vecchio. Und wir denken uns hinzu: auf der Vorderbühne Berlusconi.


Mimmo Raffele und Giancarlo de Cataldo am 18.4.2012 in Hamburg (Foto © Tobias Gohlis 2012)

Strategie der Angst
Der dritte Band von Giancarlo de Cataldos politischer Geschichte Italiens in Kriminalromanen hat den italienischen Titel La forma della paura ("Die Gestalt der Angst"), der wiederum an den Terminus "Strategie der Einschüchterung" erinnert. Der deutsche Titel Zeit der Wut ist unglücklich gewählt. Denn es geht nicht um die Wut eines jungen Polizisten. Sondern um den Kampf zweier Fraktionen im Polizeiapparat, die sich seiner Wut manipulativ bedienen. Der Roman ist eine Allegorie, basierend auf realen Figuren und Tatsachen, über die Herrschaft durch Angst. In seinem Alltag als Richter am Apellationsgericht war de Cataldo immer wieder auf Fälle gestoßen, in denen Polizisten oder Geheimdienstler terroristische Anschläge vortäuschten, um nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Angst der Bevölkerung vor islamistischen Terroranschlägen wachzuhalten. So wurde etwa versucht, eine Gruppe von analphabetischen Fischern mit Drohungen zu Sprengstoffanschlägen zwingen. Nur dank der Klugheit dieser legalen Einwanderer, die sich nicht einschüchtern ließen und sich an vertrauenswürdige Polizeikräfte einschalteten, kamen diese Umtriebe ans Licht und vor de Cataldos Richterbank. "Ich erkannte: Das große Verbrechen unserer Zeit ist das Verbrechen gegen die Demokratie," fasst er zusammen. "In dieser Zeit der Konfusion können wir auch den Guten nicht vollständig trauen." Skepsis zu wecken, lebenswichtiges demokratisches Misstrauen, das ist de Cataldos erklärtes Ziel.

Demokratischer Realismus
Und wie weiland in den späten sechziger Jahren sieht er sich wieder in einer großen Allianz. Es ist die Internationale der demokratischen Kriminalschriftsteller. "Nehmen sie meine Bücher oder die von Stieg Larsson, von Dominique Manotti oder Ian Rankin, dann sehen Sie: Wir schreiben alle ganz verschieden, aber über das eine zentrale Thema, unsere schwache, anfällige, fragile Demokratie und wer sie gefährdet." In Italien ist Giancarlo de Cataldo äußerst rührig. Mit Andrea Camilleri, Carlo Lucarelli, Massimo Carlotto und etlichen anderen hat er sich zusammengetan zu einem lockeren Bündnis für den giallo, für den Kriminalroman, als demokratische realistische Literatur. Immer wieder führt er die befreundeten Kollegen in TV-Serien und Anthologien zusammen, um für die Anerkennung des Krimis zu streiten. Ironisch zitiert de Cataldo im Gespräch einen befreundeten Universitätslehrer: "Ein guter Kriminalroman ist ein Widerspruch in sich. Entweder ist der Roman gut, dann ist er kein Kriminalroman, oder der Krimi ist gut, dann ist es kein Roman." Deshalb, so vermutet er, wird auch zu seinen Lebzeiten kein Kriminalschriftsteller den höchsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, erhalten. Aber das macht nichts. Denn für Giancarlo de Cataldo ist es wichtiger weiter zu schreiben und "böse Fragen" zu stellen. So hat sein Freund Carlo Lucarelli die Aufgabe des Kriminalschriftstellers heute definiert.


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 45 vom 31.10.2012 im Krimi-Spezial "Thriller gegen die Kälte"



Siehe auch: Tobias Gohlis und Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom


Siehe auch: Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale

Siehe auch: Tobias Gohlis über Giancarlo de Cataldo: Schmutzige Hände